Essen. . Essens Sozialdezernent Peter Renzel lehnt medizinische Untersuchungen zur Altersfeststellung junger Flüchtlinge ab. Die Tests seien nicht exakt.

Seit ein angeblich minderjähriger Flüchtling in Rheinland-Pfalz seine 15-jährige Ex-Freundin getötet hat, wird bundesweit über strengere Alterstests für junge Flüchtlinge debattiert. Befürworter der Tests verweisen auch darauf, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) unter die Jugendhilfe fallen und so viel höhere Kosten verursachen als Erwachsene. Christina Wandt sprach mit Sozialdezernent Peter Renzel über die Praxis in Essen.

Land trägt die Kosten für die minderjährigen Flüchtlinge

Herr Renzel, wie hoch sind die Gesamtkosten für die derzeit 420 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Essen, wer trägt sie?

Die Durchschnittskosten lagen im Dezember bei 150 Euro pro Tag [also 4500 Euro im Monat], inklusive Bekleidung, Taschengeld etc. 2017 wurden insgesamt 22,9 Millionen Euro ausgegeben. Vom Land erhalten wir für die Unterbringung minderjähriger Flüchtlinge volle Kostenerstattung. Grundsätzlich fallen für einen jungen Flüchtling die gleichen Kosten an wie für einen deutschen Jugendlichen, der in einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe lebt. Einziger Unterschied ist die Sprachbarriere, die Dolmetscher nötig macht. Diese Kosten trägt der Landschaftsverband Rheinland.

Wie hoch wären die Kosten, wenn es sich um Erwachsene handelte?

Die Kosten für erwachsene Asylbewerber in Unterkünften liegen aktuell bei gut 1000 Euro im Monat.

Sozialarbeiter befragen die Neuankömmlinge

Wie läuft die Altersfeststellung durch das Essener Jugendamt?

Die Inaugenscheinnahme durch die Fachgruppe erfolgt stets durch zwei erfahrene Fachkräfte (Sozialarbeiter) unter Hinzuziehung eines Dolmetschers. Neben den Personalien fragen wir nach Herkunftsfamilie, Lebenssituation im Heimatland, schulischem und beruflichem Werdegang sowie nach dem gesundheitlichen Zustand. Bei der Fluchtgeschichte fragen wir nach dem jeweiligen Alter und Jahr etwa bei der Einschulung, beim Schulabschluss und zu Beginn der Flucht. Sowie nach der Dauer des Aufenthalts in Transitländern.

Wozu dienen solche Details?

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Personen, die in Wirklichkeit schon volljährig sind, sind nicht in der Lage, diese Angaben schlüssig zu tätigen. Anzeichen für Volljährigkeit sind das Verhalten im Gespräch, die Stimmlage sowie eben die Unsicherheit bei Alters- und Jahresangaben. Erfahrungsgemäß geben Volljährige oft an, dass sie nicht wissen, wie alt sie zu bestimmten Zeitpunkten gewesen seien, oder sie müssen lange rechnen, um eine passende Antwort zu geben.

Die Flucht lässt manchen Jugendlichen äußerlich altern

Welche Rolle spielt das Äußere?

Neben möglichen Stirnfalten, Bartwuchs und Körperbau ist auch das Aussehen der Hände ausschlaggebend. Auch graue Haare und Geheimratsecken werden berücksichtigt: Es kam in der Vergangenheit jedoch vor, dass selbst Minderjährige, die sich durch eine Geburtsurkunde ausweisen konnten, nach einer langen, traumatischen Flucht leicht ergraut waren. Auch Gesichtszüge waren teils verhärtet.

Wie geht es dann weiter?

Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme dauert etwa eine Stunde. Der Befragte unterschreibt dann auf dem Dokumentationsbogen, dass die von ihm getätigten Angaben der Wahrheit entsprechen. Werden Betroffene als volljährig eingeschätzt, erhalten sie einen Ablehnungsbescheid, der sie an eine Unterkunft für Erwachsene verweist.

Sozialdezernent Peter Renzel.
Sozialdezernent Peter Renzel. © Ulrich von Born

In Zweifelsfällen empfiehlt das Land eine ärztliche Untersuchung, etwa Röntgenaufnahmen der Hand ...

... seit November 2015 hatten wir fünf Zweifelsfälle. Bei ihnen wurde keine medizinische Altersfeststellung durchgeführt. Denn auch diese Untersuchung kann keinen exakten Aufschluss über eine Minderjährigkeit oder Volljährigkeit geben. Die bisher angewandten Verfahren – Untersuchung des Handwurzelknochens, des Schlüsselbeins oder der Zähne – liefern kein eindeutiges Ergebnis, sondern benennen lediglich eine Altersspanne etwa von 16 bis 18 oder 17 bis 19 Jahren. Zudem ist jede der Untersuchungen wegen der Röntgenstrahlen ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der jungen Menschen, für die keine medizinische Indikation vorliegt. Wir haben darum bei den Zweifelsfällen eine zweite Inaugenscheinnahme von zwei anderen Kolleginnen machen lassen – diese bestätigte in diesen Fällen die erste Einschätzung.

Ein Fünftel der Befragten wird als volljährig eingestuft

Hat in Essen also kein junger Flüchtling falsche Angaben gemacht?

Doch: Durchschnittlich 20 Prozent der in Augenschein genommenen Minderjährigen werden als volljährig eingeschätzt. Von 274 jungen Flüchtlingen im Jahr 2017 wurden 55 Personen nach Inaugenscheinnahme als volljährig eingestuft. Der Auftrag der Fachgruppe ist vor allem der Kinder- und Jugendschutz, daher wird im Zweifel zugunsten der Jugendlichen entschieden, zumal ja kein verlässliches Verfahren zur exakten Altersfeststellung existiert. Zweimal haben wir einen Flüchtling als volljährig eingeschätzt, und später wurde eine Geburtsurkunde im Original vorlegt, die die Minderjährigkeit bestätigte – dann erfolgte eine erneute Inobhutnahme.

Wie viele der 420 unbegleiteten jungen Flüchtlinge sind straffällig oder anderweitig auffällig?

Die Integration läuft nach hiesiger Einschätzung sehr gut. Es gibt Einzelfälle, in denen Jugendliche straffällig geworden sind, wobei es sich in der Regel um kleinere Diebstähle und Schwarzfahren handelte. Einzelne Jugendliche wurden in Bezug auf Drogendelikte auffällig; hier wird eng mit der Jugendgerichtshilfe kooperiert. Intensivstraftäter gibt es bei den von uns betreuten Jugendlichen bisher nicht.

>>> NEWLAND HAT EIN NEUES ZUHAUSE

Während die Debatte um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zuletzt lebhafter geworden ist (siehe Interview), erleben Sozialdienst katholischer Frauen (SKF) und Diakoniewerk in Essen eher eine Entspannung. So haben sie die gemeinsam betreute Clearingstelle Newland jetzt deutlich verkleinert. „Das Kleid war zu groß geworden“, sagt SKF-Geschäftsführer Björn Enno Hermans. Zwei Jahre lang bot Newland am Zehnthof in Kray Platz für 50 junge Flüchtlinge, die dort einige Monate zur Ruhe kommen konnten, um dann in Heime, Pflegefamilien oder Wohngruppen zu ziehen.

Im Dezember ist Newland selbst umgezogen, in ein kleineres Haus in Überruhr. Hier leben nur 15 Jugendliche – so viel wie in Kray auf einer Etage. Das bringe einen Qualitätsgewinn mit sich, betont Alina Terörde, die Newland seit Juli 2017 leitet. „Vorher hatten wir nur Zweibettzimmer, hier haben alle ein Einzelzimmer.“ Nur für diejenigen, die gern ein Zimmer teilen, etwa weil sie von Alpträumen geplagt werden, gebe es noch zwei Doppelzimmer.

Warten auf den Schulplatz dauert etwa drei Monate

Statt langer Flure und Unübersichtlichkeit gibt es nun Überschaubarkeit mit großzügigem Wohnzimmer und einer Küche, in der alle Bewohner zusammen essen können. „Wir können hier besser miteinander sprechen, sind enger dran“, sagt Terörde. Dazu biete das Obergeschoss zwei Jugendlichen, die schon länger da sind und sich auf den Auszug vorbereiten, die nötige Abgeschiedenheit, um das Alleine-Wohnen zu testen. In derselben Etage ist auch der Schulungsraum untergebracht; denn drei Stunden Unterricht bekommen auch all jene, denen noch kein Platz an einer Regelschule zugewiesen wurde – das könne bis zu drei Monate dauern.

Als Pluspunkt gilt, dass das neue Gebäude am Karl-Schreiner-Haus liegt: Das Diakoniewerk als einer der Träger von Newland hat auf dem Gelände diverse soziale Angebote und ist im bürgerlichen Wohnviertel bekannt. „Der alte Standort lag in einer gewerblich geprägten Ecke. Hier gibt es gute Kontakte zu den Nachbarn, manche interessieren sich für ehrenamtliche Mitarbeit“, sagt Jörg Lehmann, Geschäftsbereichsleiter beim Diakoniewerk.

Nur wenige werden straffällig - meist als Schwarzfahrer

Geändert habe sich in jüngster Zeit die Zusammensetzung der Bewohner: Kamen anfangs die meisten aus Afghanistan und Syrien, stammen nun viele aus afrikanischen Ländern wie Guinea oder Somalia. Auch ein junger Türke, der wegen seiner Religion verfolgt wurde, wohnt in Newland. Neben dem neuen Haus in Überruhr hat Newland übrigens noch zehn weitere Plätze in einer Außenwohngruppe in Essen-West: Hier leben Jugendliche, die nach einigen Wochen in andere Städte umziehen müssen, weil Essen seine Aufnahmequote derzeit erfüllt hat

Insgesamt haben in zwei Jahren 350 Jugendliche in der Clearingstelle Newland gelebt. Bei keinem von ihnen habe man etwa eine Radikalisierung erlebt. „Dabei gab es in Kray Leute, die ums Haus schlichen, um die Jugendlichen in bestimmte Moscheen zu lotsen“, sagt Lehmann. Dank der Aufmerksamkeit des Teams habe man gegensteuern können. Auch straffällig sei kaum ein Junge geworden, „und dann ging es meist ums Schwarzfahren“, sagt Alina Terörde.

Es sei nicht immer alles „heile Welt“, räumt SKF-Geschäftsführer Hermans ein. Doch das gegenwärtige Misstrauen gegenüber jungen Flüchtlingen hält er für völlig übertrieben: „Selbst wenn fünf Prozent volljährig sein sollten, profitieren auch sie von der intensiven Betreuung. Das verursacht vielleicht im Moment mehr Kosten, als wenn sie in einer Flüchtlingsunterkunft sitzen. In der Zukunft nutzt es ihnen und der Gesellschaft gewiss mehr, wenn sie gut integriert werden.“