Essen. Mohamed und Jahesh sind als Jugendliche aus Syrien und Afghanistan nach Essen geflohen. Warum sie heute Vorbilder für andere junge Menschen sind.
Dass sein Neustart in Deutschland alles andere als leicht sein wird, wurde Jahesh Akhgar bereits wenige Tage nach seiner Ankunft bewusst. Mit einigen Bekannten machte er einen Spaziergang in Essen-Überruhr, um der Hektik des Flüchtlingslagers zu entkommen und die neue Umgebung zu erkunden, als plötzlich Glasflaschen durch die Luft flogen, direkt auf sie zu. „Die Leute sind im Auto an uns vorbeigefahren. Sie haben dann noch irgendeine Beleidigung auf Deutsch gerufen, die wir damals noch nicht verstanden haben“, erinnert er sich.
Das ist nun sieben Jahre her. Als Jahesh im Winter 2015 beschloss, seine geliebte Heimat Afghanistan hinter sich zu lassen, um in Deutschland ein neues, ein sicheres Leben zu beginnen, war er gerade 15 Jahre alt. Einen Monat lang war er gemeinsam mit seinem älteren Bruder auf der Flucht. Sie durchkreuzten etliche Länder, riskierten auf dem Mittelmeer ihr Leben.
2015 und 2016: Zehntausende unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland
Als die beiden in Essen ankamen, war Jahesh erwachsen geworden. „Mir war bekannt, wie der Fluchtweg sein wird, aber nicht in dem Ausmaß. Dadurch hat sich bei mir vieles geändert“, sagt er im Rückblick. Mehr als 22.000 unbegleitete Minderjährige haben laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Jahr 2015 einen Asyl-Erstantrag gestellt, 3000 von ihnen in Nordrhein-Westfalen.
2016 waren es bundesweit 35.939 – „so viele wie nie zuvor. Dies stellte die Regelstrukturen der Unterbringung, Versorgung und Betreuung vor eine besondere Belastungsprobe“, heißt es dazu vom BAMF. Nach ihrer Ankunft werden unbegleitete, junge Geflüchtete noch heute meist in Wohngruppen untergebracht.
Eine von ihnen ist die Essener „Verselbstständigungsgruppe Phoenix“ von „PlanB Ruhr“ und „Vielfalt im Ruhrgebiet“. Hier arbeitet Jahesh seit einem halben Jahr – und betreut die derzeit sechs jungen Geflüchteten sowie die fünf Jugendlichen aus Deutschland, die nicht bei ihren Eltern bleiben konnten.
Minderjähriger Geflüchteter in Essen: „Deutsch zu lernen ist wirklich schwer“
Am großen Holztisch im Gemeinschaftsraum wird Jahesh bereits von Amin erwartet, der erst seit drei Monaten in Deutschland ist. Während dieser seine Hausaufgaben erledigt, sitzt Jahesh geduldig neben ihm. Er korrigiert Rechtschreibfehler, hilft bei Fragen zur Grammatik. „Deutsch zu lernen ist wirklich schwer“, sagt Jahesh.
Für Amin ist er mehr als ein Erzieher. Er ist sein Vorbild. Denn Jahesh hat ihm gezeigt, dass man es trotz aller Herausforderungen schaffen kann – angefangen bei der schweren Sprache. Jahesh lernte jeden Tag stundenlang Deutsch in der Bibliothek. Mittlerweile muss er nur noch bei besonders komplizierten Wörtern kurz überlegen. 2017 machte er erst den Haupt-, dann seinen Realschulabschluss und schließlich parallel zur Erzieher-Ausbildung sein Abitur.
Nun unterstützt er die Jugendlichen der Wohngruppe „Phoenix“ in der Schule, bei Bewerbungen, im Haushalt und hilft ihnen, die Flucht aufzuarbeiten und sich vom Heimweh abzulenken. „Ich komme auch aus dem Krieg, ich weiß, wie eine Flucht ist, ich kenne ihre Kultur und ihre Sprache. Das macht es leichter für sie.“
Essener kritisiert: Politik während Flüchtlingswelle 2015/2016 „sehr problematisch“
Mit seinen Erfahrungen hilft Jahesh aber nicht nur den Bewohnern, die selbst geflohen sind, sondern auch denjenigen, die in Deutschland geboren wurden, sagt Leiter Keewan Othman: „Für die deutsch sozialisierten Jugendlichen hat es große Vorteile. Sie können sich vor Augen führen: Wenn Jahesh, der aus einem Kriegsgebiet kommt, es in Deutschland ohne Familie, ohne Sprache, ohne kulturelles Wissen geschafft hat, dann schaffe ich das auch.“
Dass er es schaffen kann, daran hat Jahesh selbst nie gezweifelt. Selbst dann nicht, als er nach 3,5 Jahren in Essen den Brief mit dem gelben Umschlag öffnete, auf dem stand, dass er Deutschland innerhalb der nächsten 14 Tage verlassen müsse – und dann aber doch bleiben durfte. Und auch nicht, als er seinen Job, in dem er mit Menschen mit Behinderung zusammenarbeitete, verlor, weil seine Arbeitserlaubnis nicht rechtzeitig verlängert wurde.
„Die Politik damals war sehr problematisch. Ich hatte so viele Gespräche mit afghanischen Jungs, die zu mir gesagt haben: Warum soll ich mich überhaupt anstrengen, die ganze deutsche Grammatik zu lernen, wenn ich eh abgeschoben werde?“, kritisiert Keewan Othman.
Unsichere Bleibeperspektive und mangelnde Unterstützung
Die unsichere Bleibeperspektive sowie mangelnde Unterstützung sind ausschlaggebend dafür, dass nicht alle „so eine schöne Laufbahn hinlegen wie Jahesh“, sagt Othman: „Er hatte viel Glück. Zum einen, weil er im Ruhrgebiet angekommen ist. Hier ist die Vielfalt hoch und dadurch die Akzeptanz höher als in anderen Regionen. Aber auch, weil er die richtigen Ansprechpersonen hatte, die ihn unterstützt haben. Junge Menschen brauchen diese Unterstützung. Man darf ja nicht vergessen: Sie kommen ohne Eltern hierher. Das macht es umso schwerer für sie, in diesem Land anzukommen.“
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Wie schwer es sein kann, anzukommen, merkt der 22-jährige Mohamed Saleh Kayal noch heute – mehr als sieben Jahre nach seiner Flucht – jeden Tag. Im Sommer 2015 verließ er sein Heimatland Syrien, zusammen mit seiner Tante und seinen drei Cousinen. In Deutschland angekommen, wurde der damals 14-Jährige in einer Wohngruppe untergebracht. Schon damals beschloss Mohamed, dass er einmal selbst als Erzieher arbeiten möchte, „um etwas zurückzugeben“.
Geflüchteter in Essen: „Afghanistan ist immer in meinen Gedanken“
An diesem Nachmittag steht er in der Küche der Wohngruppe „Phoenix“ und zeigt einem Jugendlichen, wie dieser den perfekten Kaffee kochen kann. Mohamed hat bereits eine Ausbildung zum Kinderpfleger absolviert, in diesem Jahr wird er seine Erzieherausbildung abschließen. „Wir machen viel dieser lebenspraktischen Hilfe im Haushalt. Aber auch emotional sind wir immer da für die Jugendlichen. Sie kommen zu uns, wenn sie glücklich sind. Aber auch, wenn sie Probleme mit ihren Eltern haben oder in der Schule oder es ihnen einfach nicht gut geht“, erzählt er.
Die Probleme der Jugendlichen beschäftigen Mohamed auch nach Feierabend noch: „Man nimmt immer irgendwas mit nach Hause und denkt nachts darüber nach.“ Wenn er nicht schlafen kann, kreisen seine Gedanken häufig auch um seine Freunde und seine Familie, die er in Damaskus zurücklassen musste.
Das ständige Heimweh kennt Jahesh nur zu gut. Wenn er über das, was seit der Machtübernahme der Taliban in seiner Heimat passiert ist, spricht, verfinstert sich sein Blick. „Afghanistan ist immer in meinen Gedanken. Es war schwer für mich, meine Heimat zu verlassen.“ Und trotzdem, sagt Jahesh, fühlt sich Essen für ihn mittlerweile wie sein Zuhause an.