Essen. Eine Essener Ärztin verlegt die Terminvergabe vom Telefon ins Netz, Praxen gewinnen Zeit für ihre Kernaufgaben. Nun wird ihr Start-up gefördert.
Schluss mit überfüllten Wartezimmern und Telefonwarteschleifen: Das war die Grundidee des Online-Terminvergabesystems Dubidoc, das die Essener HNO-Ärztin Dr. Shabnam Fahimi-Weber entwickelt hat. Jetzt wurde Dubidoc in ein Programm aufgenommen, mit dem die Gründerallianz Ruhr und das Innovationszentrum Bryck visionäre Unternehmerinnen fördern.
Fahimi-Weber hat tatsächlich eine Vision. Die über eine Million Arzttermine, die jährlich über Dubidoc vereinbart werden, sieht sie nur als Anfang: „Mir schwebt vor, dass Arztpraxen so viel automatisieren wie möglich – damit mir und meinen Kollegen mehr Zeit für die Versorgung der Patienten bleibt.“
Essener Ärztin will verhindern, dass Medizin zum Luxusgut wird
Das sei umso dringlicher, als in naher Zukunft eine ganze Ärzte-Generation in Pension geht: So seien etwa die Hausärzte hierzulande im Schnitt Mitte 50. „Wir müssen verhindern, das Medizin zu einem Luxusgut wird“, sagt die Ärztin.
Schon heute warten Patienten oft lange auf Facharzttermine, werden bei Anrufen bei Ärzten auf Geduldsproben gestellt. Umgekehrt sorgt der Andrang auch in den Praxen für Frust, namentlich bei den Medizinischen Fachangestellten (MFA), die viel Zeit mit Telefonieren verbringen. „Wir hatten ein wahnsinniges Aufkommen am Telefon“, sagt Shabnam Fahimi-Weber über die drei Standorte, an denen sie mit ihren Kollegen gut 15.000 Patienten pro Quartal behandelt. „Also haben wir uns gefragt, wie wir das digital so effizient gestalten können, dass die Terminvergabe weitgehend im Hintergrund läuft.“
Im Jahr 2016 begannen sie, ein Konzept zu entwickeln, sammelten Basisdaten, etwa wie lange die traditionelle Terminvereinbarung dauert. Als mitten in dieser Phase „Doctolib“ auf den hiesigen Markt kam, sei das ein Schock gewesen, sagt Fahimi-Weber. Zum Glück habe Dubidoc jedoch einen anderen Ansatz als das französische Portal, das eher der Maxime gehorche: Wo bekomme ich noch schnell einen Termin?
Das Start-up erlebte anstrengende Jahre
„Uns geht es darum, die Bindung zwischen Praxis und Patient zu erhalten.“ So ersetze Dubidoc vorhandene Praxissysteme nicht, sondern erweitere deren Möglichkeiten: „Die Terminfindung bleibt auf der Homepage der Praxis.“ Den Ärzten gehe es ja nicht darum, digital etliche neue Patienten zu gewinnen, sondern ihre Patienten besser auf die Praxiszeit zu verteilen. Viel Wert lege man dabei auf den Schutz der sensiblen Patientendaten.
Vor drei Jahren ging Dubidoc an den Start: Just zum Beginn der Pandemie, die für einen ersten Auftrag sorgte. „Wir haben die Impftermine für die Stadt organisiert.“ Auch sonst habe Corona das Start-up im Südviertel nicht gebremst: Über Messen, Empfehlungen oder soziale Medien habe man Arztpraxen als Kunden gewonnen. Heute arbeiten gut 70 Essener (Gemeinschafts-)Praxen mit dem System, also rund 150 Mediziner. Insgesamt gibt es in der Stadt gut 930 niedergelassene Ärzte (Stand Dezember 2020).
Das Dubidoc-Team ist nun 15-köpfig, dieses Jahr will man fünf weitere Kräfte einstellen. „Wir haben superanstrengende Jahre hinter uns“, sagt die Ärztin. „Bei einer Praxis kommen die Leute; beim Start-up geht man voll ins Risiko, muss mit Niederlagen umgehen.“ Aktuell seien alle topmotiviert: „Wir sind gewachsen und wollen weiter wachsen.“
Das Gründerzentrum Bryck der RAG-Stiftung und die Gründerallianz Ruhr haben sie nun als einzige Unternehmerin aus Essen ins „Female Booster“-Programm aufgenommen. Die Start-up-Profis werden Dubidoc bei den nächsten Schritten begleiten: dem Einwerben von weiterem Kapital, dem Aufbau eines Vertriebssystems und der Entwicklung eines Angebots für die Notfallambulanzen von Krankenhäusern. Ein Jahr lang wird Dubidoc gecoacht, die ersten zwei Monate ganz eng. Das Programm sei zeitintensiv: „Die wollen, dass wir erfolgreich sind.“
Medizinerin wünscht sich eine Kultur des Wagens
Shabnam Fahimi-Weber wünscht sich, dass in Essen zehn weitere Digital Health Unternehmen entstehen. „Wir brauchen eine Kultur des Wagens: Menschen, die Risikokapital in die Hand nehmen, die Fehler machen dürfen.“ Dazu gehöre die Bereitschaft zu „destruktiver Innovation“: Zu einer Erneuerung also, die alte Strukturen umschmeißt.
Online-Terminvergabe-Systeme, mit denen bundesweit bisher maximal 20 Prozent der Arztpraxen ausgestattet sind, seien dafür ein gutes Beispiel: Sie lösen den Anruf in der Praxis, das persönliche Telefonat mit der Medizinischen Fachangestellten ab. „Doch die hat dafür Zeit, sich um die Patienten zu kümmern, medizinische Aufgaben zu erledigen.“ Also ihr Fachwissen einzusetzen, das sonst zu oft ungenutzt bliebe. In ihren Praxen übernähmen nun fachfremde Kräfte und Studenten verbliebene Organisationsaufgaben, sagt Fahimi-Weber. Und: Das Wartezimmer sei leerer, die Atmosphäre nicht mehr hektisch.
Auch alte Patienten buchen Online-Termine
Wer den Arbeitsplatz Arztpraxis für Nachwuchsmediziner wieder attraktiv machen wolle, müsse digitalisieren. Der Widerstand dagegen komme übrigens selten von betagten Patienten: „Die 80-Jährigen buchen selbst online Termine oder die Angehörigen übernehmen das.“ Viele ältere Ärzte scheuten jedoch, ihre Praxis noch umzustrukturieren: „Unterlassen sie es aber, finden sie keine Nachfolger“, mahnt Fahimi-Weber. Für die Gesundheitsversorgung von morgen wäre das fatal.
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