Essen. . Beim Projekt „Sprache verbindet Essen“ begleiten Gymnasiasten aus dem Essener Süden Grundschüler aus dem Norden. Als Gesprächspartner, Spielkameraden, Vorbilder.

Luis Weber ist 15 Jahre alt, besucht das Helmholtz-Gymnasium in Rüttenscheid und wohnt im Moltkeviertel. Neuerdings fährt er einmal in der Woche nach Altendorf; das dauert mit der Bahn eine halbe Stunde und katapultiert ihn in eine andere Welt: die Bodelschwinghschule, wo 96 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund haben und 52 Nationen vertreten sind. Hier trifft Luis auf Anthony, plaudert mit dem Siebenjährigen über Fußball oder liest mit ihm Bilderbücher. Das macht beiden Freude und ist Herzstück des Projekts „Sprache verbindet Essen“.

Anthonys Eltern stammen aus Spanien, er lebt noch kein Jahr in Essen, spricht schon gut Deutsch, „aber er kann Hilfe gebrauchen“, wie Luis formuliert.

Und Anthony nimmt die Hilfe des Älteren gern an, sucht ein Buch aus, liest stockend, aber eifrig die Geschichte vom Knuffelhasen vor. Er lese am liebsten lustige Bücher, „und ich habe eine nette Lehrerin!“ Anthony besucht die zweite Klasse und bringt zumindest theoretisch alles für einen späteren Schulerfolg mit.

Vielen Familien fehle die Zeit fürs Gespräch

„Unsere Schüler sprechen und denken in der Regel auf Deutsch, es fehlt ihnen nur die Übung, der Austausch“, sagt Hannelore Herz-Höhnke, die die Bodelschwinghschule leitet. Das gelte nicht nur für Ayse oder Ali, sondern auch für „den einen Max, den wir hier mal haben“.

Vielen Familien fehle die Zeit fürs Gespräch, „weil die Eltern zwischen zwei, drei Minijobs hin- und herhetzen“. Heimische Defizite auszugleichen, sei eine Herausforderung für ihre Grundschule, die nicht mehr Personal habe als alle anderen. „Ich hätte gern einen Sozialarbeiter!“

Shabnam Fahimi-Weber bot der Schulleiterin keinen Sozialarbeiter, sondern engagierte Oberstufenschüler. Die HNO-Ärztin arbeitet wechselweise in einer Praxis im Essener Süden und einer im Norden und erlebt an ihren Patienten hautnah die Teilung der Stadt. Paten-Projekte aus anderen Städten brachten sie auf die Idee, hier etwas ähnliches zu organisieren. Dabei hatte sie kein einmaliges Charity-Event im Sinn, sondern eine Aktion, die nachhaltig hilft.

Viele Kinder „wissen gar nicht, dass auch sie Abi machen und studieren können“

„Ich wollte Kinder mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund zusammenbringen. So dass die Grundschüler über ein Vorbild lernen können, und über etwas, das sie berührt.“ Es gehe dabei um mehr als Spracherwerb: „Viele der Kinder sind sehr fleißig, aber sie wissen gar nicht, dass auch sie Abi machen und studieren können.“ Es geht auch um Ermutigung.

Wie gut das funktioniert, lasse sich an Anthony ablesen, sagt Schulleiterin Herz-Höhnke: „Der ist ein aufgeweckter Junge, bei dem die Treffen sofort Früchte getragen haben.“ In gewisser Hinsicht gilt das auch für Zehntklässler Luis: Er ist der älteste Sohn von Shabnam Fahimi-Weber und sah sich das Projekt zunächst nur auf Wunsch der Mutter an. „Jetzt bin ich seit zwei Monaten dabei, und es macht mir Spaß. Anthony ist ein Netter!“

Projekt könne eine Schleuse in der Stadt öffnen

Auf den Faktor Sympathie setzt auch Shabnam Fahimi-Weber, die weiß, dass es Jugendlichen schwer fällt, sich für ein Jahr auf das Engagement festzulegen. „Wenn sie aber erstmal anfangen, bleiben sie auch dabei, bauen eine Bindung zu den Kindern auf.“

Eine Bindung, die nicht nur den Schülern aus dem Norden nütze. Sie finde es bedauerlich, wenn jemand aus Heisingen noch nie in Altendorf gewesen sei, und sehe ihr Nord-Süd-Pendeln als Gewinn, den sie auch den Gymnasiasten wünsche. „Dieses Projekt kann eine Schleuse in der Stadt öffnen.“

Viele der beteiligten Jugendlichen aus dem Süden würden später verantwortungsvolle Berufe ergreifen, zu den Entscheidungsträgern in Essen gehören: „Da sollten sie doch die ganze Stadt kennen.“

Sie machen Hausarbeiten, quatschen, spielen

Für Jana Frehn (21) war das ein Motiv, sich für „Sprache verbindet“ zu melden. Sie stammt aus Neuss, hat ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht und studiert seit einem Jahr in Essen Musik und Deutsch für das gymnasiale Lehramt. „Ich wohne in Werden, kenne die City und bin fast nur mit Studenten zusammen. Durch das Projekt kann ich auch andere Seiten Essens kennenlernen.“

Seit Februar betreut sie Mahnoor aus Pakistan, die ebenfalls zur Bodelschwinghschule geht. Wie Anthony ist auch die Zehnjährige von ihrer Lehrerin für das Projekt vorgeschlagen worden: Sie hat Förderbedarf, ihre Eltern sprechen kaum Deutsch.

„Wenn ich Mahnoor besuche, wirft sie die kleinen Geschwister aus dem Wohnzimmer, um sich ungestört mit mir zu unterhalten.“ Sie machen Hausarbeiten, quatschen, spielen, einmal waren sie im Zoo. Treffen, die nicht nur Mahnoor genießt – wie sagt Jana Frehn: „Ich hab’ sie lieb gewonnen.“

Engagierte Oberstufenschüler gesucht

Das Projekt „Sprache verbindet Essen“ startete im Oktober 2016 und betreut bisher jeweils zehn Schüler der Bodelschwinghschule in Altendorf und der Grundschule Nordviertel; bald kommt eine Schule in Bedingrade hinzu. „Bedarf gibt es an vielen Grundschulen“, sagt die Ärztin Shabnam Fahimi-Weber, die das Projekt ins Leben gerufen und eine Koordinator-Stelle eingerichtet hat. Dank der finanziellen wie organisatorischen Hilfe des Chemiekonzerns Evonik könnte das Projekt bis zu 300 Kindern zugute kommen – vorausgesetzt, es finden sich genügend Oberstufenschüler.

Bisher beteiligen sich das Gymnasium Werden und das Maria-Wächtler-Gymnasium; auch das Goethe-Gymnasium hat Interesse. Interessierte Schüler füllen einen Fragebogen aus, in dem sie auch notieren, wann sie Zeit haben. Die Grundschüler werden von ihren Lehrern ausgewählt: Sie schauen, welches Kind hohen Förderbedarf hat, und sprechen die Eltern an.

Vorlauf und Vermittlung von Kindern und Jugendlichen seien recht aufwendig, sagt die Leiterin der Bodelschwinghschule Hannelore Herz-Höhnke: „Aber ist das erstmal auf den Weg gebracht, ist dieses Projekt ein Selbstläufer!“ Sie sei begeistert von den Erfolgen, von der Brücke vom Süden in den Norden: „Schön wäre, wenn meine Schüler auch mal über die A 40-Grenze in den Süden kämen.“