Essen. Zwei junge Essenerinnen erzählen, wie sie bei Pflegeeltern aufwuchsen. Die leiblichen Eltern waren überfordert – Fremde wurden zu Mama und Papa.
An einem Julitag im Jahr 2007 zog Leonie vom Heim in ein Zuhause, acht Jahre alt war sie damals. „Das Datum trage ich als Tattoo immer bei mir. Da begann ein neues Leben für mich“, sagt die 23-Jährige. Ganz ähnlich empfindet es Amelie (19) die mit sechs Jahren zu Pflegeeltern zog. Die beiden jungen Essenerinnen, die in Wirklichkeit anders heißen, erzählen, wie aus Fremden für sie Mama und Papa wurden.
Einfach war das nicht, da beide ja schon älter waren. Amelie kam erst zu Bereitschaftspflegeeltern: Diese nehmen Kinder auf, die vom Jugendamt aus ihren Familien genommen werden, bis entschieden ist, ob sie zu den leiblichen Eltern zurückkehren. Eine Zwischenstation.
Das Essener Jugendamt sucht Pflegefamilien
Kinder, deren leibliche Eltern vorübergehend, langfristig oder dauerhaft ausfallen, bringt das Essener Jugendamt in Bereitschafts- oder Dauerpflegefamilien unter. Seit gut 30 Jahren gibt es beim Jugendamt einen eigenen Pflegekinderdienst, der die Pflegeeltern vorbereitet, Kinder in die Familien vermittelt und diese auch weiter begleitet. Neben der engen Begleitung bietet der Dienst den Pflegeeltern regelmäßige Fortbildungen an, zum Beispiel zum Thema „Pflegekinder in der Pubertät“.
In Essen leben aktuell rund 600 Kinder bei Pflegeeltern. Das Jugendamt Essen sucht weitere Familien, Paare oder Einzelpersonen, die ein Pflegekind aufnehmen möchten. Informationen gibt es auf: www.essen.de/pflegeeltern oder telefonisch unter 0201 88-51361.
Für Amelie gab es keine Rückkehr, sie zog zu Pflegefamilie B., die sie vorher bei einigen Treffen kennengelernt hatte. Sie verstand sich gut mit den Eltern und mit deren leiblicher Tochter, die ein Jahr älter ist als sie. „Ich wollte dahin“, erinnert sie sich. Trotzdem blieb sie erst befangen: „Über ein Jahr habe ich jedes Mal gefragt, ob ich etwas aus dem Kühlschrank nehmen darf. Dabei haben meine Pflegeeltern immer gesagt: ,Du musst nicht fragen.’“
Mit sechs Jahren kam Amelie aus Essen zu den Pflegeeltern
Christiane Schroten vom Pflegekinderdienst des Jugendamts Essen, die Amelie und ihre Pflegeeltern jahrelang begleitet hat, sagt: „Amelie wollte immer die Liebe sein. Und sie hat sich Sorgen um ihre Geschwister gemacht, die es nicht so gut hatten wie sie.“ Zumal die leibliche Mutter, die sie anfangs einmal wöchentlich traf, noch weitere Kinder bekam. „Insgesamt sind wir acht.“ Fünf lebten später im Heim.
Die Besuchskontakte seien für das Mädchen belastend gewesen, sagt Christiane Schroten, obwohl sie später nur noch monatlich, schließlich alle drei Monate stattfanden – sofern Amelies Mutter erschien. „Mit 12, 13 wollte ich das nicht mehr“, erzählt die 19-Jährige. Die Kontakte wurden gestrichen.
Sie trägt das gleiche Herz-Tattoo wie ihre Schwester
Längst waren die Pflegeeltern zu ihrer Familie geworden. „Irgendwann hab’ ich Mama und Papa gesagt – es fühlte sich einfach so an.“ Die Eltern haben mittlerweile noch einen kleinen Jungen und ein Mädchen aufgenommen. Auch Amelie hat übrigens ein besonderes Tattoo: Sie trägt auf dem Arm das gleiche Herz wie ihre ältere Schwester.
Nicht alles sei immer glatt gelaufen, doch immer hätten sie ihre Eltern bestärkt. Gerade macht Amelie den Führerschein, wünscht sich irgendwann ein „cooles Auto“. Sie hat einen Schulabschluss mit Qualifikation fürs Abitur, doch statt Abi macht sie lieber eine Ausbildung zur Pflegekraft, möchte später im Krankenhaus arbeiten. An Auszug denkt sie noch nicht: „Bis ich fertig bin, bleibe ich erstmal zu Hause.“
Eines Tages stand die Polizei vor der Tür und holte die Kinder
So selbstverständlich von zu Hause, von Mama und Papa zu reden, ist auch für Leonie eine späte Erfahrung. Die heute 23-Jährige kam in Potsdam zur Welt, hatte Geschwister, Eltern, Großeltern – und doch keine Familie. „Es gab immer Probleme, und irgendwann zog meine Erzeugerin nach Essen.“ Wohl wegen eines Mannes. Leonie war drei, und dass sie nun so distanziert von der leiblichen Mutter spricht, hat Gründe: „Niemand hat sich um uns gekümmert. Meine Geschwister und ich liefen allein zur Kita.“
Als eines Tages die Polizei vor der Tür stand, um die Kinder mitzunehmen, wollten die trotzdem bei der Mama bleiben. Eine Entscheidung fürs Kindeswohl, so sieht das heute auch Leonie. Damals war es ein Schock. Mit den älteren Brüdern kam sie ins Heim, die kleinste Schwester kam sofort in eine Pflegefamilie. „Aber wir waren besorgt, weil wir nicht wussten, wo sie war.“
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Werden mehrere Kinder in Obhut genommen, bringt man sie meist in verschiedenen Familien und Heimen unter. Auch weil die oft traumatisierten Kinder viel Aufmerksamkeit brauchen und zur Ruhe kommen sollen. So wie Leonie, als sie nach zwei Jahren aus dem Heim auszieht.
Mama – das ist für Leonie die Pflegemutter
Ihren zukünftigen Eltern war sie zum ersten Mal beim Sommerfest begegnet, dann kamen sie öfter zu Besuch. „Als ich gefragt wurde, ob ich zu ihnen ziehen möchte, habe ich direkt Ja gesagt“, erzählt Leonie. „Dann bin ich den ganzen Flur entlanggehüpft und habe gerufen: ,Ich zieh’ aus – Ihr müsst noch bleiben.“
Die Hochstimmung bekam zunächst einen kleinen Dämpfer, erinnert sich Christiane Schroten, die auch Leonie und ihre Familie betreut. „Schule war erst ein Drama.“ Auch sei Leonie noch recht bindungslos gewesen, lief ständig zu den Nachbarn. „Ihre Pflegemutter musste ihr erst klarmachen, dass sie keine Familie mehr suchen muss – dass sie nun eine hat.“ Das klappte. Auf Fragen einer Therapeutin sagte Leonie schon bald bestimmt: „Das erzähle ich nur meiner Mama.“
Jugendamt hat die Pflegefamilien jahrelang begleitet
Mama – das ist ihre Pflegemutter. Zu ihrer leiblichen Mutter habe sie keine Verbindung mehr. „Ich bin stolz, ein Pflegekind zu sein. Sonst hätte ich nichts.“ So hat sie eine große Familie: Ihre Pflegeeltern haben noch drei leibliche, erwachsene Kinder und einen angenommenen Jungen, zehn Jahre alt. Sie nehmen auch Bereitschaftspflegekinder auf. Leonie hat eine Ausbildung abgeschlossen, arbeitet beim Kieferorthopäden; im Juli zieht sie in eine eigene Wohnung. „Es ist schön zusehen, wie die Mädchen angekommen sind“, sagt Christiane Schroten, die sich als Begleiterin und Moderatorin für Amelie, Leonie und die beiden Pflegefamilien versteht.
Die jungen Frauen wollen später auch mal Kinder haben: Sie wissen ja jetzt, wie Familie geht.