Essen-Steele. Ängstlich, gestresst, distanziert kommen Kinder oft in der Notaufnahme des Steeler Kinderheims an. Zuvor drohte mitunter Gefahr für ihr Leben.
Als der kleine Junge in die Kindernotaufnahmegruppe kam, konnte er sehr wenig. Dreieinhalb Jahre hatte er sich selbst überlassen in seinem Kinderbett gelebt – genauso alt war er. „Er konnte kaum kauen, hatte Schwierigkeiten beim Laufen und konnte noch nicht sprechen“, erinnert sich Erzieherin Melanie Stuber (31), die in der Notaufnahme arbeitet und fünf Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren betreut. Sie haben Dramen erlebt wie der Dreijährige.
In den meisten Fällen kommen die Mädchen und Jungen hier an, weil sie in ihrer Familie vernachlässigt wurden. So konnten sie sich nicht normal entwickeln und in manchen Fällen drohte sogar eine akute Gefahr für ihr junges Leben.
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Einfach da sein, Schutz bieten, trösten, sich flexibel zeigen
Die Ankunft löst bei den Kindern erst einmal Gefühlschaos aus. „Sie sind oft ängstlich, gestresst, wahren Distanz und sind ganz vorsichtig“, beschreibt Melanie Stuber die akute Situation. Für die Mädchen und Jungen bedeutet diese enorme Ungewissheit, für die Erzieher eine große Herausforderung. Einfach da sein, Schutz bieten, trösten, sich flexibel zeigen, mehr ist zunächst nicht möglich. Mehr bedarf es zu diesem Zeitpunkt nicht: „Wir wollen ihnen das Gefühl geben, nicht alleine zu sein.“
Das gilt auch weiterhin, wenn die Erzieher in der Folgezeit schauen, was das Kind erlebt hat, welches Verhalten es im Alltag zeigt und was es für eine gute Entwicklung benötigt. Es geht darum, Perspektiven zu entwickeln und die Eltern dabei nach Möglichkeit eng einzubeziehen. Insgesamt soll die Unterbringung in der Notaufnahme nicht länger als sechs Monate dauern, so der Wunsch: „Erlebt habe ich das selten“, sagt die 31-Jährige. Zu komplex sind die Fälle, bei denen vieles auch über den Richtertisch geht.
„Es mangelt mitunter an Bewusstsein, was in Familien geschieht“
Sieben Erzieher arbeiten in der Notaufnahmegruppe in verschiedenen Schichten, immer zu zweit, nur nachts allein. Der Pflege- und Betreuungsaufwand der Kinder ist hoch, ihre Biografien sind erschütternd. Beschäftigt sich Melanie Stuber mit diesen Familiengeschichten, „dann macht es mich traurig, wie lange manche Kinder Missstände erleben und ertragen müssen“. Gleichzeitig sei die Wahrnehmung in der Gesellschaft oft noch die, dass Kinder ins Heim kämen, weil sie keine Eltern mehr hätten. „Es mangelt mitunter an Bewusstsein, was in Familien geschieht“, sagt die Erzieherin.
Was Kindern erleiden müssen, damit wurde sie selbst in ihren beruflichen Anfängen ganz früh konfrontiert. Ein Kind war sexuell missbraucht worden. Als das Gerichtsverfahren endlich begann, hatte es den Grund dafür längst verdrängt. Ein völlig überfordertes Kind mit verblassten Erinnerungen. Die Übergriffe fanden nicht nur mit dem Wissen der Mutter statt, sie bereitete das Kind im Bad darauf vor. Immer, wenn der Mann zu Besuch kam, wurde es gebadet. Und dennoch: Den Wunsch nach Nähe zur Mutter verlor das Kind damals nicht.
Erinnerungen an einen ganz kleinen Jungen mit großer Wut
Der Kontakt zu Melanie Stuber hält bis heute an: „Sie meldet sich. Es geht ihr gut.“ Im Gedächtnis geblieben ist der Erzieherin auch der Augenblick, in dem sie erstmals ein Kind vor sich selbst schützen und festhalten musste. Der Fünfjährige kam von der Pflegemutter, ADHS lautete seine Diagnose. „Er hatte viel Kraft, agierte völlig impulsiv und nicht vorhersehbar“, sagt die Erzieherin, die die Bilder im Kopf trägt. An einen ganz kleinen Jungen mit großer Wut.
Andere schwierige Situationen ergeben sich, wenn ein Kind zu früh in die Familie zurückgeht, das sich gerade erst erholt, geöffnet und Fortschritte gemacht hat. Nicht selten kommt es in solchen Fällen zu einer zweiten Aufnahme. Die Entwicklungen im Alltag überschlagen sich manchmal. „Bin ich mal zwei Tage nicht im Dienst, kann schon die Welt passieren“, weiß die 31-Jährige. Die Tage in der Gruppe sind mitunter derart intensiv, dass sie sich über kleine Dinge freut – sei es, dass die Kinder satt und im Bett sind.
Auf der Suche nach Grenzen konnte er heftig ausrasten
Der dreieinhalbjährige Junge, der kaum kauen konnte, hat die Funktion seines Kiefers erst lernen müssen. „Wir haben mit Gummibärchen geübt“, erzählt Melanie Stuber von dem Kind, dessen Mutter in der Schwangerschaft gelegentlich getrunken hatte. Seine Entwicklung war erheblich verzögert, die überforderten Eltern vernachlässigten ihn, sein Kinderbett war voller Kot. Als er in der Notaufnahme ankam, sei zunächst eine große Last von ihm abgefallen, da er nun Alltagsstrukturen und ausreichende Zuwendung erlebte.
Das erste Jahr bedeutete dann eine Wahnsinnsentwicklung: „Er hat wenige Worte gelernt und war in der Lage, sich fünf Minuten mit einem Spielzeug auseinanderzusetzen.“ Ganz kleine Schritte, die so viel bedeuteten. Gleichzeitig konnte er auf der Suche nach Grenzen heftig ausrasten („Kot an die Wand schmieren“). Und doch überwog die Freude, die der kleine Junge den Erziehern bereitet hat.
„Alle seine Fortschritte änderten aber nichts daran, dass er noch sehr lange Pflege und Begleitung benötigen wird“, sagt Melanie Stuber. Das bedeutete, das passende neue Zuhause für ihn zu finden, war sehr schwierig, denn eine Pflegefamilie kann schnell an ihre Grenze kommen. Er zog in eine Einrichtung der Behindertenhilfe. Vergessen wird die Erzieherin ihn nicht. Sie hat ihn gemocht: „Ein niedlicher Kerl, der auch zu lachen gelernt hat.“
*Die Namen aller Erzieher sind geändert, da sie in Zusammenhang mit den erzählten Schicksalen Rückschlüsse auf die Identität der Kinder ermöglichen könnten.