Essen. . Pflegeeltern werden dringend gesucht. Hier erzählt eine Mutter, wie zwei fremde Kinder zu ihren Söhnen wurden. „Nun fühlt’s sich wie Familie an.“

Ein Jahr ist es her, da hat die Familie von Annika Weinhardt (33) von einem auf den anderen Tag zwei neue Mitglieder bekommen: Zwei kleine Jungen im Alter von zwei und drei Jahren zogen zu ihr und ihrem Mann, ihr damals sechsjähriger Sohn war plötzlich großer Bruder. Die Weinhardts sind Pflegeeltern und werden nun regelmäßig gefragt, wann die beiden Jungs denn wieder ausziehen: Gar nicht, sagt Annika Weinhardt dann. „Erst waren das fremde Kinder, mit jedem Tag werden sie mehr und mehr zu unseren Söhnen.“

Pflegemutter Annika Weinhardt hat zwei kleine Jungen in ihrer Familie aufgenommen. Aus Datenschutzgründen zeigen wir die Kinder nicht im Bild.
Pflegemutter Annika Weinhardt hat zwei kleine Jungen in ihrer Familie aufgenommen. Aus Datenschutzgründen zeigen wir die Kinder nicht im Bild. © Christof Köpsel

Denn anders als Bereitschaftspflege-Familien, bei denen das Jugendamt vorübergehend Kinder unterbringt, sind die Weinhardts eine sogenannte Erziehungsstelle: Also professionelle Pflegeeltern, die Kindern ein neues Zuhause geben wollen. Kindern, die aus verschiedensten Gründen nicht bei den leiblichen Eltern bleiben können und oft Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch erfahren haben. „Wir wissen nicht immer, was in ihrem Rucksack ist“, sagt Koordinatorin Birgit Glitzner von der Evangelischen Jugend- und Familienhilfe Essen gGmbH. So gut wie möglich versuche man das zu ermitteln, etwa ob die Mutter in der Schwangerschaft Alkohol oder Drogen konsumiert habe. Trotzdem bleibe das Kind, salopp formuliert, oft ein „Überraschungs-Ei“.

Salopp formuliert, ist das Kind ein Überraschungs-Ei

Es ist nicht leicht, Menschen zu finden, die sich auf ein solches Überraschungs-Ei einlassen – und die für die Aufgabe geeignet sind. Beim Missbrauchs-Fall in Lügde rätselte die Öffentlichkeit, wie ein Pflegekind bei einem arbeitslosen Mann auf einem Campingplatz untergebracht werden konnte. Und wie das Jugendamt offenbar alle Warnhinweise ignorieren konnte. Die Jugend- und Familienhilfe betont, dass sie sich sehr genau ansieht, wem sie ein Kind vermittelt.

„Wir prüfen die Bewerber intensiv: Sie müssen ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen, wir unterhalten uns mit ihnen und machen natürlich Hausbesuche“, sagt Susanne Hamm von der Fachberatung der Jugend- und Familienhilfe. „Wir fragen nach ihrer Haltung und ihren Werten und wieso sie ihre Familie erweitern wollen“, ergänzt Birgit Glitzner. Weil Erziehungsstellen für Kinder mit erheblichen Defiziten gedacht sind, müssen die Bewerber außerdem eine pädagogische Ausbildung mitbringen oder erst eine Fortbildung absolvieren.

„Es handelt sich um eine Lebensaufgabe“

Und die Betreuer bleiben auch dran, wenn das Kind umgezogen ist: In der Anfangszeit kommen sie oft wöchentlich vorbei, begleiten zum Beispiel Arzt- oder eventuelle Gerichtstermine; später kommen sie 14-tägig. Das sei nicht nur zum Schutz der Kinder wichtig, sondern auch für die Pflegemütter und -väter. „Es handelt sich ja um eine Lebensaufgabe“, sagt Birgit Glitzner. Und: „Wer sich darauf einlässt, ist als Familie öffentlich.“

Annika Weinhardt hat das nicht abgeschreckt: Die 33-Jährige ist Sozialarbeiterin und hat während des Studiums in einer Wohngruppe mit fünf Kindern gearbeitet. Schon damals sei ihr und ihrem Mann klar geworden, dass sie gern ein Kind aufnehmen würden. Es wurden dann gleich zwei, vermittelt von der Jugend- und Familienhilfe, bei der sie sich gut aufgehoben fühlen. Die Anfangszeit aber, da beschönigt sie nichts, sei hart gewesen: „Wir waren erschlagen, wenn die Kinder abends im Bett waren. Wir haben kein Fernsehen, kein Radio angemacht, oft nicht mal miteinander gesprochen – wir wollten nur Ruhe.“

Es gibt keine Geheimnisse: Kinder kennen ihre Herkunft

Dabei seien die Jungs, damals zwei und drei Jahre alt, ganz innig miteinander gewesen, und ihr Sohn habe sich über die Geschwister und seine neue Rolle als großer Bruder gefreut: „Der sagt, es können ruhig noch mehr Kinder kommen.“ Aber es war eben laut, lebhaft, wuselig. Und sie mussten die Kinder erst kennen- und lesen lernen, ihre Bedürfnisse und Signale verstehen. „Ich habe da oft einen pädagogischen Blick, mein Mann sagt manchmal einfach: ,Das ist jetzt halt so.’“ Auch dieser eher gelassene Ansatz sei wichtig.

Ganz selbstverständlich sagen die Jungen Mama und Papa zu Annika Weinhardt und ihrem Mann. Ihre leibliche Mutter, die sie alle sechs Wochen besuchen, ist die „Bauch-Mama“. Solche Besuchskontakte könnten für die Kinder auch hilfreich sein, sagt Birgit Glitzner: „Die kennen von Anfang an ihre Herkunft, wachsen nicht mit Geheimnissen auf.“

Der Kleine fragt bang: „Mama, bleibst Du?“

Nach einem Jahr in ihrem neuen Zuhause kämen sie nun wirklich in der Familie an. Was auch bedeute, dass sie mal austesten: „Bin ich so gewollt, wie ich bin?“ So poche der Ältere, der schon in die Kita geht, sehr darauf, selbstbestimmt zu sein. Der Jüngere, der eine Entwicklungsverzögerung hat, sich mit dem Sprechen schwer tut, brauche mehr Schutz, sei besonders anhänglich. Der frage beim Termin mit der Krankengymnastin schon mal bang: „Mama, bleibst Du?“

Die Mama wird bleiben, nicht nur bei solchen Terminen, sondern für immer. Auch Omas und Opas haben die Jungen ins Herz geschlossen, und eine Bekannte habe neulich zu ihr gesagt, man merke gar nicht, dass die beiden eine andere Vorgeschichte haben. Nicht immer laufe es so gut, räumt Susanne Hamm ein. Aber die Jugend- und Familienhilfe unterstütze die Familien im Alltag und in Krisen. Sie hoffe daher, dass sich andere Paare oder auch Einzelpersonen finden, die ein fremdes Kind aufnehmen möchten. Es muss ja nicht fremd bleiben: „Das ist Arbeit, das ist Spaß – und es wächst“, sagt Annika Weinhardt: „Bei uns fühlt es sich jetzt schon wie Familie an.“

>>> PFLEGEELTERN WERDEN GESUCHT

  • Die Evangelische Jugend- und Familienhilfe am Palmbuschweg 156 a in Essen-Altenessen gibt es seit 31 Jahren. Sie vermittelt im Auftrag des Jugendamtes Kinder, die nicht in ihren Herkunftsfamilien bleiben können, in professionelle Pflegefamilien (Erziehungsstellen). Das Team sucht regelmäßig Menschen, die gern ein Kind aufnehmen möchten. Das können Paare (auch gleichgeschlechtliche) oder Alleinstehende sein.
  • Sie werden von der Jugend- und Familienhilfe ausgebildet und später intensiv begleitet. In einer meist mehrwöchigen Anbahnungsphase lernen sie die Kinder kennen, die bei ihnen ein neues Zuhause finden sollen.
  • Infos: Tel. 0201-858 953 40 oder: www.est-ruhrgebiet.de