Ulrike Gabrielczyk aus Katernberg hat fünf Kinder groß gezogen – und 100 Pflegekinder betreut. Sie kennt nicht mehr alle Namen, kann aber die Geschichte von jedem Kind erzählen.

Im Haus und im Herzen von Ulrike Gabrielczyk (53) ist immer ein Platz frei: Die Katernbergerin hat vier leibliche und ein angenommenes Kind, die heute zwischen 19 und 30 Jahre alt sind. Dazu kommen zwei kleine Enkel. Und 100 Pflegekinder, die sie in den vergangenen 21 Jahren betreut hat. Eins blieb kaum einen Tag, ein anderes volle zwei Jahre lang bei ihr – und eins blieb für immer. Alle Namen könnte sie nun nicht mehr nennen. „Aber wenn ich in mein Fotoalbum gucke, kann ich Ihnen die Geschichte von jedem dieser Kinder erzählen.“ Einige der Geschichten haben wir aufgeschrieben – und die Namen aller Kinder geändert.

Als alles begann 1991, hatte Ulrike Gabrielczyk schon drei Kinder und wollte sich beim Jugendamt eigentlich als Tagesmutter melden. Durch eine Mischung aus Missverständnis und Überrumpelung wurde sie jedoch zur Bereitschaftspflegemutter – und hatte es gleich zu Beginn mit Kindern von suchtkranken Müttern zu tun. Mit Kindern, die zitterten und schrien, die im Babyalter ihren ersten Entzug erlebten.

Dann kam die kleine Nicole, die mit kaum 3 Jahren schon einige Knochenbrüche und Klinikaufenthalte hinter sich hatte. Nun hatte sie die Mutter im Jugendamt auf den Schreibtisch gesetzt und gefordert: „Bringt die unter.“ Nicole kam zur Familie Gabrielczyk, der das kleine Mädchen ans Herz wuchs; und als die Mutter das Kind einen Tag vor Heiligabend plötzlich zurückverlangte, sagten das Jugendamt und die Gabrielczyks Nein. Ein Rechtsstreit begann, zog sich über zwei Jahre. Die leibliche Mutter unterlag.

„Sie kann alles, sie braucht nur mehr Zeit“

Nun sollte für Nicole ein neues Zuhause gefunden werden, denn Bereitschafts-Pflegefamilien sind als Zwischenstation gedacht. Das Mädchen wurde eingehend untersucht und als geistig behindert eingestuft: Sie solle im Franz-Sales-Haus untergebracht werde. Ulrike Gabrielczyk war empört über diese Diagnose: „Ich sagte: Die kann allles, sie braucht nur mehr Zeit.“ Glauben mochte man der Pflegemutter nicht, doch sie erkämpfte sich, dass Nicole bei ihr bleiben durfte. Zeitweilig brachte sie das Mädchen fünf Mal wöchentlich zur Therapie: „Heute hat sie einen Realschulabschluss.“ Und eine Familie, in der sie sich geborgen fühlt.

Dass sie ein Pflegekind ist, hat Nicole erst in der Grundschule realisiert und an die Treffen mit der leiblichen Mutter kann sich die junge Frau heute nicht erinnern. Ulrike Gabrielczyk weiß noch, dass die Frau sich kaum für ihre Tochter interessierte, „aber jedes Mal ein neues Baby präsentierte“. Fünf Halbgeschwister hat Nicole. Mit 16 hat sie die leibliche Mutter noch einmal besucht, in einer dreckigen Wohnung in einer anderen Stadt. „Ich hab die ja nie als meine Mama gesehen. Aber da wollte ich nur schnell weg.“

Nicole ist inzwischen verheiratet und selbst Mutter. „Ich könnte mein Kind nie abgeben. Aber bevor jemand ein Kind in eine Mülltonne steckt, soll er es lieber im Jugendamt auf den Schreibtisch setzen.“

Zu Heiligabend brachte die Polizei ein Baby

Nicole war nicht das einzige Kind, das Ulrike Gabrielczyk behalten wollte. Da war Luc, knapp zwei Jahre alt und geistig behindert. „Der hatte etwas an sich... Das war mein Kind.“ Obwohl sie ihn bei der Dauerpflegefamilie gut aufgehoben wusste, war der Abschied hart. „Danach habe ich eine Pause gemacht – ich wäre keinem anderen Pflegekind gerecht geworden.“ Es tue ihr bis heute weh, wenn sie Luc sehe.

Gescheitert sei sie an Mike. Ein Jahr alt war er, als er zu ihr kam: das Kind einer Alkoholikerin, das nur den zugedeckten Laufstall kannte. Rührte sich das Baby, warf die Mutter vom Sofa Gegenstände nach ihm. Mike hatte Angst vor runden Dingen, vor Berührung, vor Licht, vorm Leben. Er schrie gegen die Angst, schrie bis zu 15 Stunden, lang, schrie lauter, wenn man sich ihm näherte. Zwei Jahre ist das her; Ulrike Gabrielczyk hatte damals schon viel Erfahrung, hatte mit Behutsamkeit Zugang zu schwierigen Kindern gefunden. „Mike war ein Alptraum. Ich hätte ihn manchmal gern an die Wand geklatscht“, gesteht sie. Da helfe nur, den Raum zu verlassen. 16 Monate lang versuchte sie es mit Mike, zwei Tage vor Heiligabend kapitulierte sie: „Meine Familie sagte: Wenn der bleibt, feierst Du Weihnachten allein.“

Dabei haben ihre Kinder und ihr Mann, der Werkzeugmacher ist, sonst immer zu ihr gehalten. Anders gehe es auch nicht, die Pflegekinder seien ja selbst im Urlaub dabei. Und weil sie „Standby-Mutter“ ist, können sie zu jeder Tages- und Nachtzeit kommen: „Einmal fuhr die Polizei Heiligabend bei uns vor.“ Die Beamten brachten das Baby einer Drogensüchtigen, das sie bei einem Einsatz zwischen weißem Pulver auf einem Tisch gefunden hatten. Da stellte Familie Gabrielczyk die Bescherung einen Moment zurück: „Einer bezog das Bett, der andere machte das Fläschchen fertig – dann gab’s die Geschenke.“

Das Christkind blieb ein halbes Jahr und lebt heute in einer Dauerpflegefamilie.