Essen. Ob Hochhaus, Windrad, Baukran oder bergiges Gelände: Einsätze der Essener Höhenretter bedeuten extreme Situationen. Und oftmals retten sie Leben.
- Dieser Artikel erschien zum ersten Mal im Jahr 2021 in leicht abgewandelter Form.
- Anlass für die Neuveröffentlichung: Ein Mann hatte bei Dacharbeiten am Dienstag, 16. April 2024, einen medizinischen Notfall erlitten. Rettungssanitäter hielten es für keine gute Idee, den Patienten mit einer normalen Tragehilfe von dem Gerüst zum Rettungswagen zu transportieren. Deshalb wurde die Höhenrettungstruppe der Essener Feuerwehr alarmiert, die den den Mann in einer sogenannten Schleifkorbtrage sicher abseilen konnte (zur aktuellen Berichterstattung).
- In diesem Text finden Sie Informationen über die Einsätze der Essener Höhenretter sowie über den Gründer dieser Einheit bei der Feuerwehr.
Als Kind ist Carsten Stock auf manchen Baum geklettert, von einigen Brücken und Dächern gesprungen. „Gut, dass meine Eltern nicht alles gewusst haben“, sagte der 59-Jährige im Jahr 2021, als dieser Artikel erstmals erschien. Sein Beruf hat ihn noch viel weiter nach oben geführt. Carsten Stock hatte damals vor 26 Jahren die Einheit der Höhenretter gegründet. Wenn er nun in Pension geht, dann bleibt diese Truppe der Berufsfeuerwehr und vor allem den Essenern erhalten, wenn sie in Not geraten: ob in großer Höhe oder im unwegsamen Gelände.
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Auf einem Baukran in 60 Metern Höhe saß einst ein junger Mann. Carsten Stock wurde abends zum Hauptbahnhof alarmiert, war als erster oben bei dem 21-Jährigen. Der Höhenretter fragte nach seinem Namen, seiner Geschichte. Oliver erzählte von seinem Kummer und den Drogenproblemen. „Es war nicht einfach, aber ich habe schließlich 45 Minuten mit ihm verhandelt“, erzählt Carsten Stock. Vergebens. Oliver verstummte, schenkte ihm seine Mütze. Sprang.
Höhenretter der Essener Feuerwehr: Unvergessene Augenblicke bei den Einsätzen
Dieser Augenblick bleibt unvergessen. Viele Einsätze, in denen die Rettung gelungen ist, sind es auch. Geführt haben diese Carsten Stock in Windparks, in Baugruben oder aufs Dach des Hochhauses. Hinab ging es stets am Seil, gesichert von den Kollegen, in den Gurten oder dem Schleiftragekorb der Patient, den er gerettet hat – meist aus Lebensgefahr. Damit dieser ruhig bleibt, hat er ihm in die Augen geschaut, hat im Zweifel seinen Kopf fest an sich gedrückt und zugepackt. Immer sind es extreme Situationen und Einsatzorte, die die Feuerwehr mit der Drehleiter nicht erreicht.
Sein beruflicher Weg bei der Feuerwehr begann für Carsten Stock nach der Ausbildung zum Elektriker, „als es wegen der Kohleöfen noch häufiger brannte und wir mit dem Ledermantel ins Feuer gingen“, erinnert er sich an die Zeit, in der er mit knapp 20 Jahren der Jüngste auf der Wache Bredeney/Rüttenscheid gewesen ist und viel von den Kollegen gelernt hat. Er rückte aus zum schweren Motorradunfall oder beim Flugzeugabsturz, half im Rettungswagen einem Kind auf die Welt, das nun seinen Namen trägt.
Die Geburtsstunde der Essener Höhenretter
„Man kann viel über die Feuerwehr erzählen, aber die Realität ist immer anders“, sagt Carsten Stock, der von der Nordsee ins Ruhrgebiet kam und dessen Vater schon Feuerwehrmann gewesen ist. „Ich wollte eigentlich nicht hin.“ Ob es das Richtige sei, merke man aber schnell. Er spürte das, entdeckte Perspektiven für sich, wurde erst Gruppen- , dann Zugführer, übernahm die Rettungsassistentenschule, ist Brandrat, Wachführer auf der Hauptwache, Taucher, Bootsführer - und Höhenretter.
Die Schutzausrüstung der Höhenretter
Zur Schutzausrüstung der Höhenretter zählt neben Gurt, Helm und Handschuhen ein Abseilgerät, mit dem sie die Geschwindigkeit kontrollieren. Das Sicherungsgerät dient dazu, bei Bedarf zu bremsen.
An ihrem Gurt sind Seile, Karabiner und Schlingen befestigt. Im Seilsack auf ihrem Rücken nehmen sie ein weiteres Seil mit, das bis zu 200 Meter lang ist.
Allein das lange Seil kann bis zu 15 Kilogramm wiegen, so dass Höhenretter insgesamt mit einem Gewicht von rund 25 Kilogramm ausrücken.
„Die Geburtsstunde der Höhenrettung waren seinerzeit Einsätze, bei denen eine Frau mit Hund wiederholt auf einen Kran geklettert ist. Sie hielt uns auf Trab“, blickt Carsten Stock auf die Anfänge, als diese Einheiten in Deutschland kaum vorhanden gewesen sind. Ihren Ursprung haben sie in der ehemaligen DDR, wegen Einsätzen in Plattenbausiedlungen. In Essen stand damals fest: Die Sicherung, die Ausrüstung wie Ausbildung der Feuerwehrleute hält solchen Einsätzen nicht stand. „Was wir bis dahin gemacht haben, war gefährlich. Das ist es jetzt nicht mehr, wenn wir es richtig machen.“
Die Konsequenz: Drei Feuerwehrmänner machten 1995 die Sonderausbildung zum Höhenretter. Carsten Stock absolvierte sie als erster, wurde Hauptverantwortlicher für die neue Einheit, bildete schon im darauffolgenden Jahr selbst Kollegen aus. Mehr als 300 sind es insgesamt geworden.
Höhenretter der Feuerwehr bewegen sich oft an der Leistungsgrenze
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45 aktive Höhenretter zählen heute stets zur Truppe. Brandamtmann Daniel Johann ist nicht nur einer von ihnen, sondern nun auch der Nachfolger von Carsten Stock als Leiter der Einheit. Der 42-Jährige war zunächst Ehrenamtlicher bei der Freiwilligen Feuerwehr, lernte den Teamgeist zu schätzen („ich habe eine gute Einheit erwischt“) und entdeckte bei der Berufsfeuerwehr schließlich viele Möglichkeiten sowie Herausforderungen für sich. Die Sonderausbildung zum Höhenretter war eine davon, die er gleich 2003 nach seiner Grundausbildung bestand.
Zuvor hatte er im Dienst auf der Borbecker Wache die ersten Höhenretter kennengelernt, hatte erlebt, wie die Kollegen sich mit enormem Durchhaltevermögen, Kraft, Ausdauer an der Leistungsgrenze bewegten, den Respekt vor der Höhe wie den Überblick nie verloren.
Dabei macht es selbst für erfahrene Einsatzkräfte einen Unterschied, ob sie Menschen aus Höhen bis zu 100 Metern retten oder sich auf dem RWE-Kraftwerk bewegen. Steigt Daniel Johann dort in 200 Metern aus, „ist der Wow-Effekt durchaus da.“
Höhenretter-Spezialisten klettern mit 30 Kilogramm auf 60 Meter Höhe
Höhengewöhnung spielt eine wichtige Rolle, körperliche Belastbarkeit ebenso. Klettern die Spezialisten mit 30 Kilogramm Ausrüstung auf 60 Meter Höhe, „fängt die Arbeit ja dort oben erst an“, erklärt der dreifache Familienvater, der auf der Leitstelle als Wachführer zuständig für das Stadtgeschehen ist. Denkt er an die Momente zurück, die ihn bewegen und emotional belasten, sind es weniger die spektakulären Einsätze als Höhenretter, als vielmehr persönliche Schicksale, wenn etwa die Mutter in eine geschlossene Klinik muss und von ihrem Kind getrennt wird.
Dennoch bleibt der Nachmittag unvergessen, als es um 17 Uhr hieß: „Ballon in Hochspannungsleitung“. Sechs Personen waren in 90 Metern Höhe gefangen. Die Höhenretter rückten nach Bottrop aus: „Die Hülle hing in der Mastspitze auf der Oberleitung“, beschreibt Daniel Johann die Situation. Eine Stunde brauchte er, um hochzuklettern. War als erster oben, viel später am Abend als letzter wieder unten.
In der Zeit dazwischen koordinierte er die Rettung, damit keine Fehler passieren („leichtfertig bewegt sich niemand, aber man wird im Laufe des Einsatzes mitunter risikofreudiger“), während Carsten Stock unten die Organisation des Einsatzes übernahm. In einer Art Pendelverkehr retteten die Spezialisten die Insassen, kümmerten sich um den apathischen Piloten ebenso wie um die Frau, die sie zunächst überzeugen mussten, aus dem Korb auszusteigen und sich an der Seite des Höhenretters auf den Weg nach unten zu machen.
Anstrengend sind auch die Gespräche, die Höhenretter in Einsätzen führen
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Als Daniel Johann sich abseilte, war es dunkel. Da hatte er Stunden auf den schmalen Stahlstützen gestanden, hatte gespürt, wie die Kraft allmählich schwindet. Er fühlte, wie seine Hand anfing zu zittern, wusste gleichzeitig, dass er jetzt nicht in Panik verfallen darf. Als verlorenes Gefühl beschreibt er den Moment, in dem er den Boden unter den Füßen hatte und wusste, alle sind gesund und kehren an diesem Tag heil nach Hause. Die Menschen in den Häusern ringsherum klatschten. „Das war ein ordentlicher Motivationsschub für uns.“
Ebenso anstrengend sind die Gespräche, die Höhenretter in Einsätzen manchmal zwei, mitunter auch drei Stunden führen, sich auf den Patienten einstellen, selbst auf den, zu dem sie vielleicht kaum einen Draht finden. Was den Einsatzkräften dabei hilft, ist ihre Lebenserfahrung und das Training in der Gesprächsführung, das Spezialisten der Polizei übernehmen. „Es gibt Gespräche, die ebenso viel Kraft kosten, als wären wir einen Kran zweimal hochgeklettert“, beschreibt Daniel Johann.
Um die psychologische Betreuung der Höhenretter kümmerte Carsten Stock sich 20 Jahre, hat diese inzwischen in gute Hände übergeben, wie er es nennt. Wie wichtig diese ist, weiß er nur zu genau. Manches verdrängen die Retter („das Gesicht von Oliver hatte ich am Tag danach vergessen“), anderes nehmen sie mit nach Hause. „Denn die Einsätze machen was mit dem Menschen. Es bleibt was in der Jacke, bleibt an dir kleben.“
Höhenretter fällen Entscheidungen, die Leben retten
Er erinnert sich an das Feuer in Stadtwald. Das Haus brannte immer heftiger. Zwei Trupps sollten hinein, einen Bewohner retten, als Carsten Stock rief: „Lasst den Mann los, raus da.“ Am nächsten Tag konnten die Höhenretter den Senior nur noch tot bergen. Doch Carsten Stock weiß, dass seine Entscheidung sehr wahrscheinlich das Leben von sechs Feuerwehrleuten gerettet hat. Denn es war absehbar, dass das Haus kurz davor war, komplett in Flammen aufzugehen. „Sie hätten selbst mit ihrer Schutzkleidung keine Chance gehabt.“
Seine beruflichen Chancen hat er genutzt, lässt mit den Höhenrettern seine Einheit zurück, die nicht nur weiterlebt, „sondern die 5000 Mal besser geworden ist. Darüber bin ich sehr froh“. Er ist dankbar für seine Zeit bei der Feuerwehr, blickt darauf wie auf ein großes Buch, das er hat lesen dürfen.
Dieser Artikel ist zuerst am 30. März 2021 erschienen.
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