Duisburg-Marxloh. Obdachlose suchen Zuflucht am Petershof, schlafen in Containern. Immer mehr Bedürftige kommen – Corona lässt Armut und Not in Duisburg wachsen.

Die hochschwangere Maria und ihr Ehemann Josef hätten bei Pater Oliver Potschien an die Tür geklopft, wenn sie heute in Marxloh statt vor gut 2000 Jahren in Bethlehem Zuflucht gesucht hätten. Der Ordensbruder hätte ihnen Kaffee, Essen und warme Kleidung gegeben und sie in einem Schlafcontainer am Petershof untergebracht, notfalls für sie sogar ein Feldbett in der Kirche St. Peter aufgestellt. Selbst der Esel aus der Weihnachtsgeschichte würde im ehemaligen Gemeindegarten unterkommen, wo derzeit Ziegen, Hühner und Wellensittiche leben.

„Letztlich ist hier jeden Tag Weihnachten“, sagt Pater Oliver ernst und denkt dabei an die Bibelgeschichte aus Bethlehem. Seitdem vor drei Jahren erstmals ein Obdachloser um Zuflucht bat, um nachts nicht zu erfrieren, übernachten Hilfsbedürftige am Petershof. Ihre Zahl ist stetig gewachsen – ebenso wie die Armut im Stadtteil. Corona hat dies beschleunigt, weil die Pandemie viele prekäre Arbeitsplätze vernichtet hat. Das merken am Petershof die Helferinnen und Helfer um Pater Oliver an der steigenden Zahl der Hilfsbedürftigen, ob sie zum kostenlosen Mittagstisch, zur Kleiderkammer, zur Beratung oder zum neuen Corona-Testzentrum kommen.

Pater Oliver: „Der Ausnahmezustand ist hier zur Normalität geworden“

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Die Schlafcontainer mit insgesamt 16 Plätzen sind jetzt nur deshalb nicht voll, weil gerade einige Bewohner im Krankenhaus liegen. Doch das ist wohl nur die Ruhe vor dem Sturm, in der Kirche sind bereits wieder einige Feldbetten gestapelt. „Der Ausnahmezustand ist hier zur Normalität geworden“, betont Pater Oliver. Für den Leiter des Petershofs, die Mitarbeiter und Ehrenamtlichen ist das aber auch ein Ansporn. „Duisburg steht zusammen, um etwas für die Menschen hier zu erreichen. Das zu erleben, ist unglaublich toll.“

Das Engagement in der Obdachlosenhilfe überwindet in Marxloh politische, religiöse und kulturelle Unterschiede. Deutsche, Türken, Rumänen, Bulgaren – ob Atheisten, Christen oder Muslime –, sie alle packen gemeinsam an, um den Bedürftigen zu helfen. Mitgetragen wird dieser Einsatz von der Kirchengemeinde und der Nachbarschaft. Gerade im Advent werden fast stündlich neue Spenden vorbeigebracht, mal eine Kiste Äpfel, mal Winterkleidung oder Kekse.

Obdachlosenhilfe in Marxloh will ein würdiges Leben bieten

„Hier werde ich behandelt wie ein normaler Mensch“: Den kostenlosen Mittagstisch in St. Peter nutzt der Obdachlose Uwe Bendix gerne, um mit anderen Bedürftigen und mit Helfern zu plaudern.
„Hier werde ich behandelt wie ein normaler Mensch“: Den kostenlosen Mittagstisch in St. Peter nutzt der Obdachlose Uwe Bendix gerne, um mit anderen Bedürftigen und mit Helfern zu plaudern. © FUNKE Foto Services | Jörg Schimmel

„Hier werde ich behandelt wie ein normaler Mensch“, sagt Uwe Bendix. Im Juli hat der 46-Jährige seine Anderthalbzimmerwohnung nach einer Räumungsklage verloren und lebt seitdem auf der Straße. Die Mieten würden einfach immer höher steigen. Zu hoch. Im Hotel Salm, der städtischen Unterkunft, hielt er es nicht lange aus. Dort war er ganz auf sich alleine gestellt. Ganz anders am Petershof. „Hier sind alle Leute nett, und man wird nicht unter Druck gesetzt“, so Bendix, der seit August im Container neben der Kirche schläft. Nächstes Jahr wolle er sich wieder um eine Wohnung und um einen Job bemühen. Und dennoch sagt er: „Mir gefällt es hier sehr gut.“

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Allerdings weiß Mitarbeiterin Aslı Sönmezışık, dass die Bedürftigen im Notschlafcontainer nirgendwo sonst mehr hinkönnen. „Viele Menschen hier sind durch Sucht und Krankheit zerstört, wir bieten ihnen ein würdevolles Leben, auch bis zum Ende.“ Drei Obdachlose sind bereits in den Containern gestorben. Nach dem ersten Todesfall vor anderthalb Jahren hatte sich das Team erhofft, dass die Stadt Duisburg eine Lösung für die Bedürftigen findet. Doch kaum waren die Container im vorigen Advent leergezogen, waren die Betroffenen kurz darauf zurück.

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„Es ist ein Skandal, dass Menschen in Containern schlafen müssen“, betont Pater Oliver und fordert seit Jahren ein Umdenken bei der städtischen Obdachlosenhilfe. „Das System weist Lücken auf, das ist allen Beteiligten klar. Dafür müssen wir Lösungen finden.“ Jedoch warten er und seine Unterstützer längst nicht mehr darauf. Gleichwohl sollen Schlafcontainer und Feldbetten kein Dauerzustand bleiben, denn „Würde sind wir jedem Menschen schuldig“.

Die Armut in Duisburg-Marxloh wächst. Noch reichen die Plätze in den Notschlafcontainern neben der Kirche aus, aber die Feldbetten stehen schon bereit.
Die Armut in Duisburg-Marxloh wächst. Noch reichen die Plätze in den Notschlafcontainern neben der Kirche aus, aber die Feldbetten stehen schon bereit. © FUNKE Foto Services | Jörg Schimmel

Dazu gehört für Aslı Sönmezışık und den Jahrespraktikanten Leo-Angelo Bartels vor allem, dass sie die Bedürftigen nicht von oben herab behandeln, sondern ihnen auf Augenhöhe begegnen. Etwa beim gemeinsamen Mittagessen in St. Peter oder bei den vielen Alltagsgesprächen. So sucht Containerbewohner Michael Rankel bei der 45-Jährigen jetzt Rat wegen seiner Tochter, deren sprudelnde Teenager-Hormone aktuell wild Achterbahn fahren. Das überfordert den Papa, doch Sönmezışık hat offenbar genau die richtigen Tipps. „Alle setzen sich extrem für uns ein“, freut sich Rankel. Das sei äußerst selten.

Gemeinsames Weihnachtsessen an Heiligabend für Bedürftige

„Unsere Klienten sind unfassbar dankbar für die kleinsten Dinge“, beschreibt Bartels, dass auch das Helferteam bei seiner Arbeit viel zurückbekommt. Nicht zuletzt, weil die Obdachlosen und Bedürftigen inmitten des aus Not und Armut geborenen Ausnahmezustands am Petershof etwas Normalität erleben dürfen. Dazu gehört auch, dass in der Kirche ein Christbaum steht und es an Heiligabend ein gemeinsames Weihnachtsessen mit schönen Liedern gibt – und jeder und jede ist willkommen.

>> NEUES KONZEPT FÜR OBDACHLOSENHILFE GEFORDERT

● Pater Oliver Potschien fordert von der Stadt Duisburg schon lange ein neues Konzept für die Obdachlosenhilfe, damit nicht länger Betroffene durchs Raster fallen. „In Duisburg ist die Wohnung die Belohnung“, kritisiert er aktuelle Ansätze. Sie bekomme man nur, sobald man einen Entzug mache und alle Termine mit Behörden einhalte. Das seien für die meist suchtkranken Obdachlosen oft zu hohe Hürden.

● Mit einem anderen Ansatz der Wohnungslosenhilfe beschäftigt sich die Berliner Sozialarbeiterin Hannah Mai im Marxloher Fachbuch „Geh und handle genauso – Optionen für die Menschen“ (2021). In ihrem Fachaufsatz geht es um „Housing First“, bei dem die Unterbringung der Beginn zurück in ein geregeltes Leben ist.

● Die Obdachlosenhilfe am Petershof, vom Mittagstisch bis zur medizinischen Versorgung, ist komplett spendenfinanziert und Nachschub immer willkommen. Infos gibt’s auf www.georgswerk.de und unter 0203 5006607.