Duisburg. Am Donnerstag jährt sich die Duisburger Loveparade-Katastrophe zum vierten Mal. Anlässlich des Gedenktages sprach die Redaktion mit den Hinterbliebenen eines Todesopfers der Massenpanik. Auch ein Betroffener kommt zu Wort, der in das tödliche Gedränge geriet und körperlich und seelisch verletzt wurde.
Vier Jahre sind seit der Loveparade-Katastrophe vergangen. „Trotzdem fühlt es sich so an, als sei es gestern gewesen“, sagt Friedhelm Scharff. Seine Lebensgefährtin Edith Jakubassa nickt zustimmend und sagt: „Auf dieser Wunde hat sich über die Jahre eine Kruste gebildet. Verheilen wird sie nie.“ Das in Hochheide lebende Paar verlor an diesem Tag Tochter Marina. Sie war unter den 21 Todesopfern die Einzige, die aus Duisburg kam. Ihre Eltern sprachen zum vierten Gedenktag mit WAZ-Redakteur Thomas Richter über. . .
. . .den Tag der Katastrophe
„Ich habe Marina noch kurz am Morgen gesehen, musste dann aber direkt zur Arbeit“, erzählt Edith Jakubassa. Marina absolvierte zu dieser Zeit eine Ausbildung zur Friseurin in einem Salon in Neudorf. „Ich habe sie nach dem Frühstück mit dem Auto dorthin gefahren. Wir mussten einen Riesen-Umweg über die A 42 machen, weil der gesamte Innenstadtbereich bereits dicht war“, schildert Friedhelm Scharff, Marinas Stiefvater.
Loveparade„Ich weiß noch, wie viele Polizei- und Rettungsfahrzeuge uns auf dem Weg begegnet sind. Da habe ich zu Marina gesagt: Guck mal, wie viele Menschen auf euch aufpassen. Da kann ja nix passieren.“ Als Scharff seine Stieftochter am Friseursalon abgesetzt hat, wendet er den Wagen und fährt nochmal an ihr vorbei. Sie lächelt und winkt ihm zu. Das hatte sie zuvor noch nie gemacht.
. . .die Schreckensnachricht
Die Familie saß voller Sorge vorm Fernsehgerät, die Nachricht von Todesfällen am Karl-Lehr-Tunnel hatte die Runde gemacht. Und plötzlich schellte am frühen Abend das Telefon. Am anderen Ende der Leitung – nicht Marina! Sondern der Chefarzt des Bethesda-Krankenhauses. „Kommen Sie bitte vorbei“, sagte er nur. „Wir sind aber gar nicht in Richtung Innenstadt gekommen. Schon in Hochfeld hielt uns die Polizei an einer Straßensperre auf“, schildert die Mutter. Sie überzeugte die Beamten, wurde durchgelassen und traf am Krankenhaus auf ein Gewusel. Hunderte Menschen, Verletzte, Angehörige, Ärzte, Pfleger. Überall Not-Zelte. In diesem Durcheinander sprachen sie einen Mann an. „Wir suchen unsere Tochter, haben wir ihm nur gesagt. Er hat uns mitgenommen und zur Intensivstation geführt. Dort lag Marina tatsächlich.“ Wer dieser fremde Helfer war? „Wissen wir nicht.“ Woher wusste er, wo die Tochter lag? „Wissen wir auch nicht.“ Klingt nach einer Fügung des Schicksals.
. . .das Abschiednehmen
Öffentliche Gedenkfeier am Loveparade-Mahnmal
Auch anlässlich des vierten Jahrestages der Loveparade-Katastrophe am nächsten Donnerstag, 24. Juli, wird es in Duisburg wieder einige Gedenkfeiern geben.
Los geht es bereits am Vorabend (Mittwoch), wenn der Verein „LoPa 2010“ ab 21 Uhr zur „Nacht der 1000 Kerzen“ einlädt. Die Gedenkstätte im Karl-Lehr-Tunnel ist dann für alle, die mittrauern wollen, frei zugänglich. Die öffentliche Gedenkfeier tags darauf findet am Mahnmal statt, das am östlichen Tunnelausgang in Neudorf auf einer Rasenfläche steht. Sie beginnt um 17.45 Uhr. Neben Ansprachen von OB Sören Link und Pfarrer Jürgen Widera sollen auch Betroffene zu Wort kommen. Luftballons sollen gen Himmel steigen. Neben dem Gospelchor Duisburg wird auch die Hardrock-Band Axxis auftreten und ihr Lied „21 Crosses“ spielen, das sie in Gedenken an die 21 Todesopfer der Katastrophe geschrieben hatte.
Zuvor werden zwischen 15 und 17.30 Uhr die Hinterbliebenen sowie die Verletzten und Traumatisierten nacheinander an der Gedenkstätte im Tunnel trauern – allein! Für die Öffentlichkeit ist der Tunnel in dieser Phase gesperrt.
Apropos Sperre: Bereits am Mittwoch ab 20 Uhr bis tags darauf um die gleiche Zeit ist der Karl-Lehr-Tunnel in beide Richtungen für den Kraftfahrzeugverkehr gesperrt. Fußgänger und Radfahrer dürfen passieren – außer während der Hinterbliebenen-Gedenkfeier am Donnerstag.
Marina wird in den zwei Tagen nach dem Unglück auf der Intensivstation von Maschinen am Leben gehalten. „Sie sah fast normal aus – bis auf die vielen Schläuche, die überall am Körper angeschlossen waren“, so die Mutter. „Nur ihr Gesichtsausdruck wirkte angespannt“, erinnert sich der Stiefvater. Nach kurzen Momenten aufkeimender Hoffnungen und ebenso vielen herben Rückschlägen wird klar: Marina wird es nicht schaffen. Sie stirbt kurz darauf. „Wir konnten uns von unserer Tochter so wenigstens noch verabschieden. Fast alle anderen Hinterbliebenen konnten das nicht“, sagt Scharff. Und Mutter Edith ist sicher: „Marina hat gefühlt, dass wir uns verabschiedet haben. Vorher wäre sie auch nicht gegangen.“
. . .die Ruhestätte
Marina wird im Kolumbarium auf dem Friedhof in Moers-Hülsdonk bestattet. „Dort liegt auch meine Mutter, also Marinas Oma“, sagt Jakubassa. Friedhelm Scharff fährt regelmäßig dorthin, für ihn ist es ein Ort zum Innehalten, zum Trauern. Für Mutter Edith ist dies die Gedenkstätte im Karl-Lehr-Tunnel. „Dort ist das alles passiert, dort will ich auch trauern.“ Zehn Mal im Jahr fahren sie dorthin. „Immer dann, wenn uns danach ist.“
. . .das Leben nach dem Tod
„Daran glaube ich nicht nur, das ist für mich eine innere Überzeugung“, sagt Edith Jakubassa. Ihre Tochter sei noch immer da. Nicht physisch. Aber in ihr. „Mir schießt manchmal ein Gedanke durch den Kopf, wo ich sofort merke, das ist nicht meine Denkweise, aber so hätte Marina gedacht.“ Mutter und Tochter hatten ein sehr enges, ja inniges Verhältnis. „Sie war eine Gerechtigkeitsfanatikerin, die sofort auf die Barrikaden gegangen ist, wenn sie oder jemand anderes nicht korrekt behandelt wurde. Und kreativ sei sie gewesen. „Sie wollte sich nach ihrer Ausbildung als Friseurin oder Visagistin selbstständig machen. Das hätte sie heute bestimmt schon geschafft.“ Diese Gedankenspiele, wo die Tochter heute wäre, wie sie sich weiterentwickelt hätte, sie beschäftigen Marinas Eltern noch immer.
Chronik einer Katastrophe
In den Turnschuhen der verstorbenen Tochter
„Wenn man ein Kind verliert, ist man nie mehr derselbe Mensch wie zuvor“, sagt Edith Jakubassa.
. . .Marinas altes Zimmer
Darin lebt nun Marinas jüngerer Halbbruder Mike (18). Fast die gesamte Garderobe ihrer Tochter hat Edith Jakubassa in die Altkleidersammlung gegeben. Behalten hat sie ein Paar Turnschuhe von Marina. Graue Chucks. Die trug die damals 21-Jährige, als sie nach Dienstschluss im Friseursalon in Richtung Loveparade-Gelände zog. Nach dem Unglück wurden von Polizei und Staatsanwaltschaft zunächst alle persönlichen Dinge der Opfer sichergestellt. „Nach ein paar Monaten haben wir alles zurückbekommen“, sagt Jakubassa. Die Turnschuhe der Tochter passen ihr nicht nur. Sie trägt sie auch. Bis heute.
. . .den Strafprozess
Im Februar erhob die Staatsanwaltschaft Duisburg Anklage gegen zehn Beschuldigte – sechs Bedienstete der Stadt Duisburg sowie vier des Loveparade-Veranstalters Lopavent. Derzeit prüft das Landgericht Duisburg noch, ob die Klage zulässig ist oder nicht. Falls ja, beginnt der Prozess nicht vor kommendem Jahr. „Wir treten als Nebenkläger auf und werden zumindest zu Beginn immer dabei sein“, sagt Jakubassa.
Ihr Anwalt hätte aber schon gewarnt, dass dies „ein sehr langer und von der Materie her vor allem sehr trockener Prozess“ werden könnte. „Wir Hinterbliebenen, alle Betroffenen, Verletzten und Traumatisierten, wir alle mussten die Konsequenzen aus dieser Katastrophe tragen. Und wir wünschen uns, dass die Verursacher das auch müssen“, so Scharff. „Und die Hauptverantwortlichen sind für mich nicht die kleinen Sachbearbeiter, sondern die Chefs“, stellt Mutter Edith klar. Soll heißen: Lopavent-Chef Schaller und der damalige Rathaus-Chef, OB Sauerland. Kämen die Verursacher davon, ohne Verantwortung für ihr Tun übernehmen zu müssen, sei für die Angehörigen kein Seelenfrieden zu finden. Niemals.
. . .das Glück und das Leben
„Wenn man ein Kind verliert, ist man nie mehr derselbe Mensch wie zuvor“, sagt Edith Jakubassa. „Richtig glücklich kann man nicht mehr werden.“ Wenn sie auf Nachfrage heute sagt, dass es ihr relativ gut gehe, heiße das nicht, dass sie glücklich ist. Dass sie nach dem Tod der Tochter der eigene Lebensmut verlassen könnte, hatte Jakubassa stets befürchtet. „Das habe ich, als es geschehen war, aber nicht zugelassen. Ich habe dagegen angekämpft und mir Hilfe gesucht.“ Das war sie sich und ihrem Partner schuldig. Aber vor allem ihrem Sohn Mike.
. . .die Gedenkfeiern
Auch interessant
Mittwochabend, nach einem Gedenkgottesdienst ab 20 Uhr in der Salvatorkirche, lädt der Verein LoPa 2010 an der Gedenkstätte im Karl-Lehr-Tunnel wieder zur „Nacht der 1000 Lichter“. Donnerstag gibt’s das Wiedersehen mit den anderen Hinterblieben. „Wir sind Freunde geworden.“ Diese Treffen bieten keinen Trost. „Wir fühlen uns dort aber immer aufgefangen. Jeder weiß, was der andere durchmacht.“ Am Freitagmorgen sind alle Hinterbliebenen zum Frühstück mit OB Link eingeladen. „Ich bin froh, wenn diese Tage rum sind. Man schaut dann immer so viel zurück“, sagt Scharff. „Ich möchte aber wieder nach vorne gucken.“ Zumindest bis zum nächsten Gedenktag.
Ohne Hilfe keine Chance, um in Therapie gehen zu können
Der Firmenchef Thorolf Schmidt ist einer der Betroffenen, die nach der Loveparade vergeblich auf Unterstützung warten:
Thorolf Schmidt führt ein Geschäft für Kernbohrungen und Elektroleitungsbau in Hilden. Der 42-jährige Familienvater geriet als Besucher bei der Loveparade in das tödliche Gedränge. Dabei wurde er verletzt. Körperlich. Und seelisch. Er zählt zu jenen Betroffenen, die bis heute vergeblich auf Hilfe warten und die nun über ihre Anwältin Bärbel Schönhof eine Zivilklage eingereicht haben.
„Ich habe eine schwere Schulterverletzung erlitten, und meine Bizepssehne wurde zerfetzt. Ich werde meinen linken Arm wohl nie mehr gerade ausstrecken können“, erzählt Schmidt der WAZ. Doch die seelischen Wunden seien schlimmer: Alpträume, akute Stimmungsschwankungen bis hin zu einer erhöhten Grundaggressivität – alles das verfolgt ihn seit dem Katastrophentag. Und wie andere Betroffene, Verletzte und Traumatisierte fühlt sich auch Schmidt allein gelassen. „Ich müsste dringend eine Therapie machen. Doch ich kann nicht einfach sechs Wochen raus, dann würde ich mein Geschäft komplett vor die Wand fahren.“
Hilfe wäre für ihn ein stellvertretender Geschäftsführer, den er einstellen und bezahlen muss, damit er selbst in Therapie könnte. Das würde pro Monat Tausende Euro kosten – Geld, das er nicht hat. Die von der Axa-Versicherung angebotene Entschädigung sei lächerlich gewesen. Schmidt hätte eine Rechtsverzichtserklärung unterzeichnen sollen, die das Erheben weiterer Ansprüche in der Zukunft ausschließt. „Hier wird ein böses Spiel mit meiner Gesundheit gespielt.“