Altstadt. Schönheit liegt im Auge des Betrachters. „Mercators Nachbarn“ wollen den Blick auch für Hässliches schärfen. Das lässt sich in der City erkunden.
Duisburg brutal. Man kann es nicht besser ausdrücken. Wie brutal kann Architektur sein? Ein Thema, das großes Interesse weckte. Die Initiative „Mercators Nachbarn“ führte nun durch die Duisburger Innenstadt und näherte sich Betonhäusern auf lockere Weise. „Duisburg brutal – Nachkriegsmoderne und Brutalismus im Stadtbild“ hieß die Veranstaltung. Es ging um die Frage, warum in der Nachkriegszeit so gebaut wurde wie gebaut wurde und warum viele die Gebäude der 1950er und 1960er Jahre heute oft als hässlich bezeichnen. Für einen spannenden Nachmittag sorgten Annika Enßle, Kunsthistorikerin im Duisburger Stadtarchiv und der Duisburger Ferdinand Leuxner, Historiker an der Universität Würzburg. Anhand von Gebäuden in verschiedenen Straßen ordneten sie anschaulich die Epoche ein.
[Nichts verpassen, was in Duisburg passiert: Hier für den täglichen Duisburg-Newsletter anmelden.]
Über 30 Interessierte nahmen neue Erkenntnisse beim Rundgang durch die Innenstadt mit. Unter anderem war ein Historiker dabei und eine Architekturstudentin, die mit fachlichem Blick auf die Häuser schauten. Aber auch einfach an Stadtgeschichte Interessierte, die neugierig auf mehr Wissen waren. Marianne Even zum Beispiel kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Ich finde es faszinierend, wie die Gründerväter nach dem Krieg so unglaublich schnell die Republik wieder aufbauen konnten. Vor allem wurde viel Wert auf Bildung gelegt.“ Das wünschte sie sich auch für die heutige Generation. Denn, um zurzeit auch nur kleine Hebel zu bewegen, müssten Berge an Bürokratie aus dem Weg geräumt werden, sagt sie und kann nur den Kopf schütteln. „Deutschland blockiert sich selbst“, ärgert sie sich.
Nach dem Krieg wurden in Duisburg Häuser im Schnellverfahren errichtet
Die erste Station von „Duisburg brutal“ ist das künftige Mercator-Viertel, bei dem 1945 kein Stein mehr auf dem anderen stand. „Nach dem Krieg war die Duisburger Bevölkerung von ehemals 400.000 Menschen auf 322.000 gesunken. Die Stadt glich aber bis 1950 die Verluste wieder aus. Also musste schnell Raum für Kinder und Bildung geschaffen werden. Denn damals war für die Stadt klar, dass vor allem Bildungsstätten vonnöten waren“, erklärte Ferdinand Leuxner dem fachkundigen Publikum. Viele Teilnehmer kannten noch aus eigener Erfahrung die Schule, die hier stand.
Spannend: Annika Enßle und Ferdinand Leuxner machten anschaulich, wie Architektur mit Politik zusammenhängt. „1951 legte Duisburg den Grundstein für einen schnellen Schulneubau und war damit Vorreiter für NRW“, berichtete der Historiker. „Das sollte heute endlich mal wieder so gesehen werden“, waren sich viele Teilnehmer einig. Gebaut wurde also ein Schulzentrum im Schnellverfahren und Modulbauweise, nicht sehr hoch, passend zu den kleinen Schülerinnen und Schülern.
Auch die heutige Kulturkirche Liebfrauen ist ein Zeugnis dieser Zeit. Bei dem Bau wurde viel Beton verwendet. Die Vorgabe war: Das Gebäude durfte nicht zu dominant sein, damit es nicht die Bedeutung des Theaters in den Schatten stellt. „Darum gibt es auch keinen klassischen Kirchturm“, berichtete Annika Enßle. Auch innen kann man den Zeitgeist erkennen. Es gibt keine Pfeiler, keine Sichtbarrieren, denn der Mensch soll im Mittelpunkt stehen. Alles läuft auf den Altar zu. „Das Material ist Sichtbeton und Buntglas, und der Boden unten geht in einem Fluss von innen nach außen.“
Das war das Konzept der Nachkriegsarchitektur, erklärte Ferdinand Leuxner anhand eines weiteren Gebäudes in der Straße Am Buchenbaum. „Die Balkone sind aus rohem Beton, ein Material, das preiswert und billig war. Man kann sie begrünen und sie ermöglichen dem Bewohner eine Sichtachse von innen nach außen. Wieder sollte auf diese Weise der Mensch im Mittelpunkt stehen. Das war die Philosophie der Architekten.
Eine von vielen Interessierten war Gisela Freytag, eine ehemalige Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes. „Ich finde so eine Führung absolut spannend. Denn normalerweise geht man immer an den Häusern vorbei, ohne einen Blick auf die Architektur zu werfen. Hier kann man richtig viel lernen.“
Auch das Lehmbruck-Museum ist nach den Kriterien des Brutalismus gebaut. Wieder Sichtmöglichkeiten von innen nach außen. Neben anderen Beispielen wurde noch ein klassischer Nachkriegsbau in der Beeckstraße besucht. Ein Klotz aus Sichtbeton, nicht begrünt. „Das Problem ist, dass die Balkone dazu gedacht waren, dass sie bepflanzt werden. Aber, Beton verrottet schnell, es ist also auch nicht wirklich ideal und sieht schnell hässlich aus“, stellte der Historiker fest. Es könne aber sein, dass solche Gebäude in 20 Jahren unter Denkmalschutz gestellt werden, weil sie typisch für eine Epoche sind. Auch, wenn viele sie mittlerweile als scheußlich empfinden.
>> Typische Architektur ab 1950
Der Brutalismus ist ein Baustil der Moderne, der ab 1950 verbreitet war. Die Bezeichnung stammt aber nicht vom Begriff der Brutalität, sondern von dem französischen „béton brut“, also Sichtbeton. Heute wird damit die Nachkriegsarchitektur zwischen 1960 und Anfang 1980 bezeichnet.
Auf die Frage, warum viele diesen Baustil heute als unglaublich hässlich und kalt empfinden, Jugendstilbauten aber als allgemein wunderschön angesehen werden, hat Annika Enßle eine klare Antwort. „Auch Architektur unterliegt Moden, wie Kleidung. Es gab Zeiten, da wurden Jugendstilhäuser abgerissen, weil man sie zu schnörkelig und einfach fürchterlich fand. Der Geschmack ändert sich eben auf jedem Gebiet.“