Duisburg. Die neuen Chefs des US-Chemieriesen schockieren die Sachtleben-Belegschaft: Fast jeder dritte Mitarbeiter in Homberg und Uerdingen muss gehen.
Schock für die 1144 Mitarbeiter des Homberger Sachtleben-Werk, das vor zwei Monaten an den US-Konzern Huntsman verkauft wurde: Das vor 137 Jahren gegründete Chemiewerk erlebt den größten personellen Einschnitt seiner Firmengeschichte.
Die neuen Eigentümer wollen insgesamt 527 Mitarbeiter entlassen, 353 Beschäftigte in Homberg sowie 174 im Nebenbetrieb in Uerdingen. Das sind jeweils fast ein Drittel der gesamten Belegschaft. Von den drastischen Personalkürzungen sollen laut Huntsman sämtliche Betriebsbereiche, also Produktion, Vertrieb und Verwaltung, betroffen sein.
Nach dem schon seit Wochen Gerüchte über personelle Einschnitte von bis zu 200 Stellen kursierten, zeigten sich mehrere hundert Mitarbeiter auf der Belegschafts-Versammlung von der Größenordnung der geplanten Kündigungen nicht nur überrascht, sondern regelrecht schockiert.
Entsetzen bei Mitarbeitern
Viele Mitarbeiter verließen die halbstündige Betriebsversammlung, bei der Huntsman-Pigments-Chef Simon Turner das Restrukturierungsprogramm vorstellte, mit versteinerten Gesichtern, einige Mitarbeiterinnen weinten.
In einer ersten Reaktion sagte Betriebsratschef Klaus Pilger: „Das trifft uns voll ins Herz. Von noch 1144 Kollegen in Homberg sollen wir 351 Mitarbeiter abbauen. Man will aber weiter Spezialitätsprodukte produzieren. Die werden wir aber gar nicht mehr herstellen können, weil wir mit weniger Personal gar nicht mehr die Qualitäten erreichen werden.“
Für den Betriebsratschef steht fest: „Da hat jemand seinen Konkurrenten aufgekauft und schleift jetzt die Burg! Die Leute sind entsetzt. Ich frage mich, wie solide Huntsman arbeitet.“ Pilger zeigte sich entsetzt und tief enttäuscht: Betriebsrat und Gewerkschaft hätten „ganz, ganz früh“ Gesprächsbereitschaft signalisiert: „Wir haben vorher der Heuschrecke Rockwood gehört und sind sogar mit der Heuschrecke Rockwood klar gekommen. Das hatte uns zuversichtlich gemacht, dass wir auch mit Huntsman einig werden würden.“ Das werde in diesem Fall anders sein.
Am Dienstag Demo in Homberg
Betriebsräte und Vertrauensleute gehen von wochenlangen Verhandlungen aus, bei denen versucht werden soll, die Zahl der Entlassungen abzumildern. Weder Betriebsrat oder die Gewerkschaft IGBCE noch der Huntsman-Pressesprecher konnten gestern mitteilen, ob es zu betriebsbedingten Kündigungen kommen oder ein Sozialplan ausgearbeitet wird.
Im Homberger Werk sind rund 160 Mitarbeiter beschäftigt, die 60 Jahre oder älter sind. Auch über die Übernahme der Auszubildenden in Homberg und Uerdingen macht man sich auf Seiten der Arbeitnehmervertreter große Sorgen. Ein Vertrauensmann: „Wir brauchen in diesem Werk dringend junge Nachwuchsleute.“
Für heute Mittag haben Betriebsrat und IGBCE zu einer Kundgebung mit Demonstrationszug in Homberg aufgerufen: Start ist um 13.30 Uhr am Parkplatz vor der alten Verwaltung von Sachtleben, von dort will man über die Duisburger Straße, die das Betriebsgelände teilt, zur neuen Hauptverwaltung an der Dr.-Rudolf-Sachtleben-Straße ziehen.
In einer dürren Börsennotiz aus dem Huntsman-Hauptquartier im US-Bundesstaat Texas kündigte Huntsman gestern Nachmittag an, in seinen Werken weltweit bis Mitte 2016 insgesamt 900 Arbeitsplätze abzubauen. Damit will man bis Mitte 2016 insgesamt 130 Millionen Dollar an Personalkosten einsparen.
Das sagen Gewerkschaft, Arbeitsagentur und IHK
Noch ist unklar, ob es bei Huntsman betriebsbedingte Kündigungen geben wird. „Ein Stellenabbau in dieser Größenordnung lässt sich nicht sozialverträglich gestalten“, sagte IGBCE-Bezirksleiter Michael Reinhard der Redaktion. „Dass es so dramatisch werden würde, damit hat keiner gerechnet. Das ist ein Schlag ins Gesicht für die ganze Region.“ Erst eine Stunde vor der Versammlung habe der Betriebsrat ein 100-seitiges Papier präsentiert bekommen: „So geht man nicht miteinander um, so etwas war früher undenkbar“, sagt Reinhard. „Das Unternehmen hat bei der Übernahme Hochglanzbroschüren verteilt und mit Werten herumgeworfen, die ihnen aber offenbar nichts bedeuten.“
Arbeitsagentur: "Ein schwerer Schlag für Duisburg"
Auch die Arbeitsagentur bedauere die Nachricht, „insbesondere für die betroffenen Menschen“, so Sprecher Hans-Georg Grein: „Der Verlust von 350 Arbeitsplätzen ist für Duisburg ein schwerer Schlag.“ Vor dem Hintergrund des örtlichen Arbeitsmarktes sei das nur schwer auszugleichen. „Wir werden uns umgehend mit dem Unternehmen in Verbindung setzen und schauen, was wir für die Leute, die freigesetzt werden, tun können.“
„Das ist bitter für die Mitarbeiter“, sagt IHK-Geschäftsführer Stefan Dietzfelbinger. Gleichzeitig sei es aber auch ein Schlag ins Kontor für die Stadt, dass diese Industrie- und Verwaltungsarbeitsplätze dauerhaft verloren gehen. „Wir müssen das Thema Arbeitsplätze und Neuansiedlungen dauerhaft auf der Agenda halten“, so Dietzfelbinger: „Das ist eine Riesenzahl, die da wegbricht. Das können wir nicht so einfach wegstecken.“ Er hofft, dass die Ausbildung bei Huntsman erhalten bleibt, „dass für die jungen Menschen eine Perspektive erhalten bleibt.“
Spielball eines Global Players - ein Kommentar von Ingo Blazejewski
Man kann sich in Duisburg über Standortfaktoren wie zu hohe Gewerbesteuern und zu wenig Gewerbeflächen unterhalten. Gegen die Entscheidung multinationaler Konzerne, die am anderen Ende der Welt getroffen werden, ist man aber schlicht machtlos. Traditionsunternehmen werden durch Aufkäufe zum Spielball der Global Player, Sachtleben ist dafür ein Paradebeispiel.
Mehr als ein Drittel der Stellen hat der Homberger Standort bereits in den Vorjahren verloren. Jetzt, nach dem erneuten Verkauf, geht der Aderlass beim Personal weiter. Hintergrund ist das Bestreben von Huntsman, die jetzt vergrößerte Pigmentsparte an die Börse zu bringen. Dazu wird verschlankt, am einfachsten geht das beim Personal.
Man werde mit den Arbeitnehmervertretern zusammenarbeiten, versicherte Präsident Peter R. Huntsman gestern. Wie das konkret aussieht, davon haben die Homberger Betriebsräte gestern, als sie eine Stunde vor Verkündung informiert wurden, einen Vorgeschmack bekommen, der noch lange bitter auf der Zunge brennen wird.