Bottrop. Zwei Sonderpädagoginnen der „Schule am Tetraeder“ in Bottrop machen Werbung für ihren Beruf – ohne Herausforderungen zu verschweigen.
Der Lehrkräftemangel ist vielerorts zu spüren, vor allem aber fehlen Grundschullehrer und Sonderpädagogen. Lena Antonin (31) und Verena Gierth (30) sind Sonderpädagoginnen an der Schule am Tetraeder in Bottrop. Mit ihrem Beispiel machen sie Werbung für ihren Beruf – ohne Herausforderungen zu verschweigen. Doch am Ende überwiegt dies: „Das Schönste ist hier, dass man von den Schülern so viel zurückbekommt. Man spürt, dass man für sie eine wichtige Bezugsperson ist“, sagt Verena Gierth.
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Vielleicht fehlt auch deshalb Nachwuchs bei den Sonderpädagogen, überlegt sie, weil viele junge Menschen gar keine Berührungspunkte mit diesem Bereich haben. Ihr ging’s nämlich genau so. Nach ihrem Abitur wollte sie eigentlich Psychologie studieren. Aufgrund des hohen Numerus clausus’ für den Studiengang entschloss sie sich spontan, ein Freiwilliges Soziales Jahr einzulegen. Einen Platz fand sie nur noch an einer Förderschule. „Da war ich erst einmal nicht so begeistert. Ich hatte Berührungsängste.“
Die legten sich schnell, und so studierte Verena Gierth Sonderpädagogik an der TU Dortmund. Nach dem Referendariat in Kleve arbeitet die Bochumerin seit drei Jahren an der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung in Bottrop. Dort lernen Kinder und Jugendliche von sechs Jahren bis ins Erwachsenenalter.
Bottrop: Viele Professionen arbeiten in der Förderschule zusammen
Ihre Kollegin Lena Antonin hatte schon als jugendliche Ehrenamtliche viel Kontakt zu Kindern mit Beeinträchtigungen und wollte das ausbauen. „Ich wollte aber nicht unbedingt an einer Schule arbeiten, hatte eher an etwas Medizinisch-Therapeutisches gedacht“, erzählt die Bottroperin. Sie studierte in Oldenburg, wo der Studiengang etwas offener angelegt sei – und entschied sich am Ende doch für den Schuldienst. Nach dem Referendariat in Gladbeck kam sie vor vier Jahren nach Bottrop.
Hier sind die beiden Teil eines Teams, zu dem verschiedene Professionen gehören. Neben den Lehrkräften sind das zum Beispiel Alltagshelfer, Schulsozialarbeiter, Krankenschwestern, Physiotherapeuten. „Das ist typisch für Förderschule, dass hier mehrere Professionen zusammenarbeiten. Das macht es für mich besonders“, sagt Lena Antonin. Als Sonderpädagogin selbst unterrichtet sie verschiedenste Fächer, von den klassischen Hauptfächern bis hin zur Hauswirtschaft, Arbeitslehre, Werken. „Das bringt Abwechslung.“
Verena Gierth wiederum mag es, dass an der Förderschule nur wenig Frontalunterricht stattfindet. „Alles ist sehr lebenspraktisch angebunden. Man hat natürlich thematische Vorgaben, aber man ist frei in der Gestaltung. Und ich finde es schön, dass wir viele Möglichkeiten haben, den Kindern Erlebnisse zu bieten.“ Wie in der Kerzenwerkstatt der Schule, in der Küche, im Snoezel-Raum, bei Ausflügen oder beim Schwimmunterricht.
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Die besondere Art des Unterrichts orientiert sich an der besonderen Art der Schülerschaft. Die wiederum ist alles andere als homogen. „Alle hier haben den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Darunter sind Kinder und Jugendliche mit einer Schwerstmehrfachbehinderung, die sich nur schwer äußern können, genauso wie Schüler, die eigene Texte schreiben können“, beschreibt Verena Gierth das Spektrum.
Lena Antonin ergänzt: „Ich würde schon sagen, dass das eine Herausforderung ist. Das Unterrichtsangebot muss breitgefächert werden.“ Differenzierungsangebote sind ein Grundanspruch in der Förderschule – ebenso wie das Unterrichten im Zweierteam.
Lehrkräfte, Integrationshelfer und Bufdis sind mit in der Klasse
„In der Theorie sind wir in allen Klassen in den meisten Stunden zu zweit“, sagt Verena Gierth. In der Praxis klappe das zum Beispiel bei hohen Krankenständen nicht. Auf der anderen Seite sind die Lehrkräfte nicht die einzigen Erwachsenen im Unterricht. So werden die Kinder, je nach Grad der Beeinträchtigung, zum Teil von Integrationshelfern begleitet. Oder Bundesfreiwilligendienstler sind mit in der Klasse. Die zählt in der Regel nur wenig Schüler, elf bis 14 seien es an der Schule am Tetraeder, die als Ganztagsschule bis 15.30 Uhr geht.
Was Lehrkräften an einer Regelschule fremd sein dürfte, gehört für die beiden Sonderpädagoginnen ganz selbstverständlich zum Alltag: Lebenspraktische Dinge trainieren, wie das Raussuchen von Busverbindungen, Wege finden, Körperpflege samt Zähneputzen und Händewaschen, Tisch decken.
Gerade die jüngeren Kinder aus der Vorstufe brauchen zudem teils noch Hilfe beim Toilettengang, beim Essen, beim Zurechtfinden in der Schule, beim Aus- und Anziehen von Regenhosen…. „Ich habe schon sehr viel Jacken zugemacht“, meint Verena Gierth mit einem Schmunzeln.
Und sonst? „Das herausfordernde Verhalten einiger Schülerinnen und Schüler ist eben herausfordernd.“ Viele von ihnen hätten zum Beispiel eine Autismus-Spektrum-Störung, würden schnell unruhig. Für andere sei es aufgrund ihrer Beeinträchtigung schwierig, sich an Regeln zu halten bzw. Regeln verletzendes Verhalten zu reflektieren und Konsequenzen ihres Tuns abzuschätzen.
Doch andererseits, ergänzt Lena Antonin, sei es besonders schön, dass man enge Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern aufbauen könne. „Man weiß viel über sie, hat Kontakt zur Familie, kennt die therapeutischen Belange.“ Eine Nähe, die gleichzeitig eine Herausforderung mit sich bringe – nämlich die, zu Hause nach der Arbeit gedanklich dennoch abschalten zu können.
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Berührungsängste wären in jedem Fall fehl am Platz. „Sie umarmen uns gerne oder fragen, ob wir sie umarmen wollen“, erzählt die Pädagogin. Jeder und jede verfüge über individuelle Besonderheiten und Bedürfnisse.
Die Erfolgserlebnisse sind entsprechend andere, als man vielleicht erwarten würde. „Eine Schülerin von mir hat im dritten Jahr an der Schule angefangen, selbstständig zu essen“, berichtet Lena Antonin. Der Fokus richtet sich eben nicht nur aufs Fachliche. Ein Zugewinn an Selbstständigkeit ist ein wichtiger Faktor. „Einige Schüler brauchen anfangs noch ein Toilettentraining. Wenn das dann funktioniert, freuen sich alle mit ihnen.“
Kein Notendruck, kein Zeugnis anhand von Zahlen, dafür individuelle Förderpläne
Notendruck, Zeugnisse anhand von Zahlen – das gibt es hier nicht. „Wir haben mehr Spielraum“; das findet Lena Antonin richtig gut. „Jedes Halbjahr werden für jeden Schüler und jede Schülerin individuell Förderziele in Deutsch, Mathe und den Entwicklungsbereichen festgesteckt.“ Transparent werde den Kindern und Jugendlichen, aber auch den Eltern vermittelt, an welchem Ziel gearbeitet werden soll. Grundsätzlich gehe es für die Schülerinnen und Schüler darum, sich individuell zu verbessern und in ihrer Persönlichkeitsentwicklung weiterzukommen, ergänzt Verena Gierth.
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Gleichzeitig könne man als Lehrkraft seine eigenen Fähigkeiten und Interessen in besonderem Maße einbringen. Sie selbst zum Beispiel bringe ihre ausgebildete Labrador-Hündin Wilma einmal in der Woche als Schulhund mit in ihre Klasse – und schätzt im Übrigen die Sicherheit ihres Berufs samt Verbeamtung.
„Kein Tag ist wie der andere“, fasst Lena Antonin zusammen. Manches laufe anders als geplant, manches sei auch körperlich anstrengend. Dennoch: Die Ganzheitlichkeit des Unterrichts und die Nähe zu den Schülern sei einfach etwas ganz Besonderes.
18 unbesetzte Sonderpädagogen-Stellen
Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Bottrop macht auf die alljährliche Schulleitungsumfrage aufmerksam. Demnach erhalte die Schulpolitik in NRW insgesamt nur die Schulnote 4,5. Als das größte Problem an ihrer Schule bezeichnen laut VBE 69 Prozent der Schulleitungen im Land den Lehrkräftemangel.
„Der Lehrkräftemangel bremst die Arbeit an den Schulen aus. Demzufolge erstaunt es nicht, dass 91 Prozent der Schulleitungen den Lehrkräftemangel als starken Belastungsfaktor angeben. Vertretungspläne gehören an vielen Schulen zur morgendlichen Routine. Kolleginnen und Kollegen müssen immer wieder ihre Arbeit umplanen. Notwendige Fördergruppen können nicht stattfinden. Schulleitungen und Kollegien können ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden. Es fehlt ausreichend Zeit für die Schülerinnen und Schüler“, erläutert Mathias Busch, stellvertretender Vorsitzender des VBE Bottrop.
Einen Überblick über nicht besetzte Sonderpädagogen-Stellen in Bottrop gibt die Bezirksregierung Münster. Mit Stand Ende November fehlten drei Sonderpädagogen an Bottroper Grundschulen, fünf an Förderschulen, drei an Realschulen, drei an der Sekundarschule und vier an Gesamtschulen.