Bottrop. Der Gründer der „Indienhilfe Bottroper Realschüler“ brachte in 51 Jahren fünf Millionen Euro für Hilfsprojekte zusammen. Am 1. Juni wird er 90.
Der Mann in Schwarz war viele Jahre so bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund. Zumindest samstags auf dem Bottroper Wochenmarkt, wenn er für „seine“ Indienhilfe Bottroper Realschüler die Trommel rührte – Pardon, auch mal die Drehorgel zum Klingen brachte. Örtliche und regionale Medien berichteten über ihn, und das Fernsehen war auch mehrmals da. Am 1. Juni feiert Rolf Linse seinen 90. Geburtstag. Sicher nicht als „Dinner for One“, sondern zunächst einmal mit einer Messe in St. Cyriakus, in deren Schatten er mit seinem Indien-Wagen, und später unter freiem Himmel, Transfer-Waren für soziale Projekt verkaufte.
Prälat Rolf Linse ist seit 1977 vielleicht so etwas wie der inoffizielle Indien-Botschafter Bottrops. Als der Priester in dem Jahr nach Stationen in Essen, Hattingen und Gladbeck als Realschullehrer und Blinden-Seelsorger des Bistums nach Bottrop versetzt wird, gibt es die Indienhilfe bereits fünf Jahre.
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„In Hattingen-Welper, meiner zweiten Kaplanstelle, hatte ich einen Pater aus Indien zu Gast, der nach Deutschland zum Studium gekommen war“, erinnert sich Linse. „Der erzählte von einem Hilfsprojekt, das ins Stocken geraten war, weil 6000 Mark fehlten, ich dachte, ich hätte mich verhört.“ Aber das stimmte. „Was damals für uns überschaubar war, war in Indien bei einem Bauarbeiter-Tageslohn von knapp über zwei Mark ein kleines Vermögen.“
Anfänge liegen in Hattingen – In Bottrop nimmt die Indienhilfe erst Fahrt auf
Linse, damals noch Kaplan, bat seine Realschüler und die Pfarrei in Hattingen um Hilfe. „Die Schüler organisierten einen Basar, die Pfarrjugend führte Altmaterialsammlungen durch, die Gemeinde kollektierte, am Ende hatte wir 18.000 Mark für das Projekt zusammen, in dem leicht körperbehinderte Jungen zu Schneidern ausgebildet wurden, Nähmaschinen erhielten und sich so in ihren Dörfern selbstständig machen konnten.“ Das Projekt lief weiter, neue kamen dazu. Die Indienhilfe war geboren.
Richtig aufgeblüht ist die Aktion aber erst ab 1977 mit der Versetzung Linses nach Bottrop. Mit der Schülerschaft der Marie-Curie- und Gustav-Heinemann-Realschule, aber auch mit Unterstützung der damals noch selbstständigen Bonifatius-Pfarre im Fuhlenbrock, in der Rolf Linse bis heute lebt, engagierte sich die „Indienhilfe Bottroper Realschüler“, wie sie bald offiziell heißt, in vielen Bereichen vom Norden bis zum tiefen Süden des riesigen Subkontinents. Hilfe für Menschen mit Behinderungen, Armutsbekämpfung durch Bildung, Krankenfürsorge oder Ausbildung von Ordensschwestern und Priesteramtskandidaten gelten als die vier Säulen der Indienhilfe.
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Bereits nach 15 Jahren unterstützte die Indienhilfe über 50 Projekte. Wie vielen Menschen so geholfen werden konnte, ist kaum noch zu beziffern. Inzwischen hat die Summe an Hilfsgeldern, die aus Spenden, Aktionen und Verkäufen für die guten Zwecke zusammenkamen, die fünf Millionen Euro Marke geknackt, wie Linse erzählt. Es hat sich über die Jahre ein regelrechtes Indien-Netzwerk gebildet. Zahlreiche weltliche wie kirchliche Auszeichnungen aus Indien wie Deutschland seit 1980 bis zum Bundesverdienstkreuz 2016 zeugen von Einsatzbereitschaft, aber auch Effektivität der Indien-Hilfe. Den Ehrentitel „Prälat“ erhält Rolf Linse 2002 noch von Papst Johannes-Paul II. Mehrfach trifft er auch Mutter Teresa. „Immer eine beeindruckende Begegnung“, sagt der Priester. Selbstredend, dass er auch bei der Heiligsprechung der Ordensfrau, die ihr Leben den Armen von Kalkutta gewidmet hat, in Rom dabei war.
Rolf Linse stammt aus einer rheinischen, katholischen Familie. „Die Not anderer oder Ausgrenzung hat auch meine Eltern nie kalt gelassen.“ Als sie in Remscheid 1943 ausgebombt wurden, ging es nach Pommern. Dort erlebten sie nicht nur, wie ansässige Deutsche geflohene Mitbürgerinnen beschimpften („Bombenweiber, haut ab!“), sondern sahen auch ausgemergelte russische Kriegsgefangene. „Unsere Mutter gab uns Butterbrote mit, die wir denen heimlich zusteckten, und auch nach dem Krieg bekamen wir immer ein paar Münzen für Bettler oder den Drehorgelspieler“, erinnert sich der Priester, der schon als Schüler wusste, dass er einmal diesen Beruf ergreifen wollte.
Genauso wie sein zwei Jahre jüngerer Bruder. Der hatte in seiner früheren Gemeinde in Essen ebenfalls eine Indien-Hilfe ins Leben gerufen. „Auch meine Mutter war aktiv dabei.“ Als sie 1996 starb, hatte sie verfügt, mit ihrem Nachlass ein Seniorenheim für Ordensfrauen in Indien zu finanzieren.
Mutter finanzierte mit ihrem Nachlass ein Seniorenheim für Ordensschwestern in Indien
„Es war schon ungewöhnlich, dass beide Kinder Priester wurden, aber es war eine andere Zeit, auch in der Kirche, man hatte das Gefühl, alles geht bergauf, Kirche war noch Volkskirche, auch in der Bergbauregion“, so Linse. Ein wenig Sorgen um die Kirche, zumindest in ihren zeitlichen Strukturen, nicht nur wegen der vielen Kirchenschließungen, macht Prälat Linse sich schon. Auch, dass er, wie viele andere ältere Geistliche, nicht mehr öffentlich die Messe feiert, lässt ihn nicht kalt.
So zelebriert er mit wenigen Besuchern fast täglich die Messe zu Hause. Samstagabends ist er in der Vorabendmesse in St. Bonifatius zu treffen, aber nicht am Altar. Und: „So lange die Kirche hier noch in Dienst ist.“ Wie es mit der Indienhilfe weitergeht, ist ebenfalls ungewiss. Eine Nachfolge für Prälat Linse steht jedenfalls nicht fest.
Die Heilige Messe anlässlich des 90. Geburtstags von Prälat Rolf Linse findet am Donnerstag, 1. Juni, um 9 Uhr in der Propsteikirche St. Cyriakus statt.