Bottrop. Die Details der Missbrauchsstudie zeigen das Ausmaß der Vertuschung in Bottrops katholischen Kirchen. Taten hätten verhindert werden können.
Die Ergebnisse der Studie zur Aufklärung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen sind nicht nur erschütternd ob der Taten, die begangen wurden, sondern auch wegen des Deckmantels des Schweigens, der um sie gehüllt wurde. Denn auch wenn viele Opfer erst in den vergangenen Jahren den Mut finden konnten, über das, was ihnen angetan wurde, zu sprechen, gab es schon vor Jahrzehnten Hinweise, die auf Missbrauchsfälle hindeuteten.
Die Studie offenbart schonungslos, welche Atmosphäre des Wegsehens und Leugnens über Jahre hinweg in den Bottroper Kirchengemeinden, allen voran St. Cyriakus, herrschte. Sie zeigt Aufdeckungspotenziale auf; also Momente, in denen den Vergehen der Bottroper Priester Peter H. und Michael P. ein Ende hätte bereitet werden können – wenn jemand den Opfern Gehör gegeben hätte.
Bottroper Gemeindemitglied zu Peter H.: „Da war niemand an Aufklärung interessiert“
Jemand, der viele Jahre in St. Cyriakus tätig war und der Peter H. und Michael P. persönlich kennt, sagt im Gespräch: „Es ist alles verheimlicht worden.“ Er möchte seinen Namen nicht veröffentlicht sehen, hat sich aber auch für die Studie befragen lassen. Die Gemeinden, in denen die beiden Priester gewirkt haben, hätten nicht wahrhaben wollen, was sie getan haben.
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Vor allem Peter H. genoss den Ruf des „guten Priesters“, es habe regelrechte „Wallfahrten“ nach Bayern gegeben, wohin Peter H. 1980 versetzt worden ist. „Da war niemand an Aufarbeitung interessiert.“
Bei Peter H. hatte es zahlreiche Momente gegeben, in denen die Kirche hätte einschreiten und manche Tat hätte verhindern können. Die Studie offenbart das in einer Auflistung neun „kritischer Ereignisse“.
Studie: In einer aufmerksamen Umgebung wären Veränderungen zu erkennen gewesen
1971 trat Peter H. ins bischöfliche Priesterseminar Essen ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits einen Neunjährigen missbraucht, oral und anal. Die Vergewaltigungen sollten sich zwei Jahre lang wiederholen. Zur Aufnahme im Priesterseminar soll der Gemeindepfarrer Fragen zu Peter H. beantworten. Eine davon lautet: „Sind unangebrachte Zärtlichkeiten gegenüber Kindern aufgefallen?“ Der Gemeindepfarrer verneint.
Zwei Jahre später: Peter H. wird nach St. Cyriakus versetzt. Aus der Zeit liegen zahlreiche Meldungen von Betroffenen vor, so die Studie. „Aus den Erzählungen derjenigen, die wir interviewen konnten, ergeben sich zahlreiche Hinweise darauf, dass es einer aufmerksamen Umgebung möglich gewesen sein müsste, zumindest Veränderungen bei den Kindern zu erkennen“, so die Einschätzung der Studien-Verfasser.
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Brenzlig für den damaligen Kaplan hätte es 1973 werden können – wäre man den Hinweisen einer Mutter nachgegangen. Sie wandte sich an den Gemeindepfarrer, hatte das Gefühl, der Kaplan habe „eine ungute Beziehung“ zu zweien ihrer drei Söhne. Sie wollte zur Polizei gehen, laut Zeitzeugenaussagen habe der Propst sie davon abgehalten. Kurz darauf wird Peter H. nach Essen versetzt. Die Mutter habe „eine Verdeckungsmaschinerie des Bistums in Gang gesetzt“, heißt es in der Studie.
Gerüchte um Bottroper Priester Peter H.: „Oh, das ging wie so ein Lauffeuer“
Es folgte „Getuschel und Gemunkel“ in der Gemeinde. Ein ehemaliger Bistumsverantwortlicher sagt: „Ja, ja, das war im Bistum bekannt. Das war ja auch ziemlich neu. Das war ja auch schrecklich. Oh, das ging wie so ein Lauffeuer. Weil das Bistum ist so klein, das erfährt sofort jeder.“
Ein Betroffener aus der Gemeinde ist sich sicher, dass auch seine Mutter etwas geahnt hatte. Sie hatte die Veränderungen bei ihrem Sohn wahrgenommen: Rückzug, Absacken der schulischen Leistungen, Alkoholkonsum, schreiben die Studienverfasser. „Meine Mutter hat sich immer gedacht, dass mit mir auch was passiert wär. Mit mir stimmt irgendwas nicht, da muss was bei dem N. passiert sein, was mich so verändert hat“, berichtet ein Betroffener. Peter H. wird in der Studie N. genannt.
Das Vertuschen ging in Bayern weiter, wo Peter H. viele Jahre als Priester wirkte – und auch, nachdem er strafrechtlich wegen Kindesmissbrauchs verurteilt wurde, weiter mit Jugendlichen arbeitete.
Missbrauch-Priester war beliebt bei Jugendlichen und Eltern
Frappierend ist, was Zeitzeugen und Betroffene zu der Stimmung in St. Cyriakus rund um Peter H. sagen. Denn der Missbrauchstäter genoss einen guten Ruf, war beliebt bei den Jugendlichen, bei den Eltern, den Gemeindemitgliedern. „Die Kirche war wieder voll auf einmal. Das war, ich sag jetzt mal, entweder wie Hitlerjugend oder wie ein Popstar, ist der verehrt worden“, so ein Betroffener.
Und ein anderer: „Also der hat wirklich was gerissen. Ich hab seinerzeit mal gesagt, der ist ein Seelenfänger.“ Eine Zeitzeugin erinnert sich: „Wie der redet, wie der predigt, die ganze Erscheinung, seine Ausstrahlung, fand ich schon auch toll, muss ich ehrlich sagen.“ Viele berichten, wie auch die Eltern begeistert waren von der gewinnenden Art des Kaplans.
Hinzu kommt: Peter H., damals Mitte 20, gibt den Kindern und Jugendlichen Zigaretten und Alkohol, macht sich so beliebt und die Jungen gefügig. Die Studie hält fest: „Für die Jungen erschien das aber auch cool, etwas Verbotenes mit dem Kaplan zu tun. Und dann kam die sexualisierte Gewalt als weiteres Geheimnis dazu.“ Manchmal gab es auch Geschenke oder kleine Geldbeträge.
Propst sagte noch Jahre später, man habe dem pädophilen Priester unrecht getan
Die Gemeinde blieb dem Pfarrer gewogen. Der damalige Propst Josef Keul soll noch Jahre später,als Peter H. längst verurteilt war, gesagt haben, dass man ihm, dem pädophilen Priester, Unrecht angetan habe. Und so zieht sich das Weggucken und das Sympathisieren mit dem „guten Kaplan“ weiter, als Michael P. auf Peter H. folgt.
„… das Prinzip der katholischen Kirche, ein Missbraucher wurde durch den anderen ersetzt. Die müssen sich abgestimmt haben, weil der hat mich angerufen, der S.“, sagt ein Betroffener. In einer Gruppendiskussion, die die Studienverfasser mit Betroffenen geführt haben, deuten mehrere Teilnehmer an, dass massive Grenzüberschreitungen, wie gemeinsame Saunabesuche allgemein bekannt waren.
Doch das Bistum schützt Michael P., dem zigfacher Missbrauch von Jungen vorgeworfen wird, gegen den 1992 ein strafrechtliches Verfahren geführt wurde, weiter. Ende der 70er-Jahre ebenso wie in den 90ern, als seine Taten längst bekannt und nicht nur „Gerüchte“ sind. Denn Michael P. zeichnete sich ebenso wie Peter H. durch Charisma aus.
In einer Gruppendiskussion schildert ein Gemeindemitglied diesen Zwiespalt so: „Ich glaube, das kommt auch daher, weil diese Person einfach so charismatisch ist. Man hat ja bei allem immer die Vorstellung, da muss ja irgendwas sichtbar werden, wenn einer sowas macht. Oder irgendwo muss das ja jemand sein, der auch negativ oder böse ist. Und diese, ich sag mal Lichtgestalt – das zusammenzubekommen, ich glaube, das ist so im Nachhinein das Schwierige an dieser Betrachtung.“
Es dauert Jahrzehnte, bis reelle Aufklärung im Bistum Essen stattfindet
Die Studie macht sehr deutlich, dass es Jahrzehnte dauert, bis eine reelle Aufklärung stattfindet. „2010 ist, wie schon oft festgestellt, das Jahr in dem das bisherige Verhalten der Bistümer gegenüber den Sexualstraftätern in den Reihen des Klerus ins Wanken gerät“, so die Studie. Zwar hatte Bischof Genn, der Vorgänger von Ruhrbischof Overbeck und heutige Bischof von Münster, schon über Peter H. berichten lassen, wirklich aktiv sei das Bistum aber erst unter Overbeck geworden, der 2009 sein Amt antrat.
Abgeschlossen ist die Aufarbeitung noch lange nicht. Wie sagte es der Ruhrbischof bei der Vorstellung der Studie: „Wir sind ein lernendes Bistum, ich bin ein lernender Bischof.“