Bottrop. In den 1970er-Jahre und darüber hinaus gab es erschütternde Fälle von Kindesmissbrauch in Bottrops Kirchen. Eine Studie offenbart die Details.

Es sind erschütternde Details, die in der 424 Seiten langen Studie des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) zur Sprache kommen. Im Zuge des Forschungsprojektes zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen, das im März 2020 begann, wurden 68 Interviews und Gruppendiskussionen mit 85 Personen geführt.

Anhand der „Karrieren“ von sechs Priestern zeigt die Studie, die am Dienstag in Essen vorgestellt wurde, exemplarisch auf, wie Taten bagatellisiert, vertuscht, Opfer nicht ernstgenommen, Gemeinden zerrüttet worden sind. Sie skizziert in Bottrop ein Jahrzehnt des Missbrauchs. Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck nennt die Geschehnisse einen „ungeheuren Skandal“.

Peter H.: Einer der prominentesten Missbrauchstäter der katholischen Kirche

Er ist einer der prominentesten Missbrauchstäter in der katholischen Kirche in Deutschland: Peter H., der sich in mindestens 23 Fällen an Jungen vergangen hat, der im vergangenen Jahr aus dem Priesterstand entlassen wurde, den das Amtsgericht Ebersberg wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt hat. Und zu dessen Fall der Vorwurf im Raum steht, Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., habe ihn geschützt.

Die Studie nimmt seine Vergehen als Fallbeispiel, um die Kommunikation zwischen den Bistümern aufzuzeigen; zudem könne anhand seines Falls nachgezeichnet werden, „welche Sprengkraft durch die Taten auch Jahrzehnte später noch in den Gemeinden und Bistumsverwaltungen unter der Oberfläche schlummert“.

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Nach fünf Interviews mit Betroffenen und 14 Interviews mit Zeitzeugen sowie Einsicht in Personal- und Geheimakte skizziert die Studie, wie Peter H. 1973 nach St. Cyriakus in Bottrop kam (in der Studie sind die Orte und Gemeinden anonymisiert, ebenso wie Täter und Opfer), obwohl er zwischen 1971 und 1973, während er im Priesterseminar in Essen studierte, über zwei Jahre lang einen anfangs neunjährigen Jungen „oral und anal missbraucht“ hat.

„Zu dominant blieb die Erzählung vom großartigen Kaplan“

Über seine Zeit in Bottrop schreiben die Verfasser der Studie: „1976 gab es sexuelle Kontakte zu mehreren Jungen. Genauere Angaben liegen nicht vor. Es gab keine Anzeige. Ebenfalls 1976 missbrauchte S. N. einen elfjährigen Jungen. Es kam auch zur Penetration. Zwischen 1977 und 1979 missbrauchte S. N. einen Jungen mehrfach (Befriedigung oral und mit der Hand).“ Peter H. wird in der Studie S. N. genannt.

1978 wird Peter H. nach Essen-Rüttenscheid versetzt. Helga Dill, Leiterin der Studie, sagt, dass es vor der Versetzung eine Missbrauchsmeldung gab, die dem Bistum bekannt war. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass das der Grund für die Versetzung war.“ In Essen missbraucht Peter H. weiter, er vergewaltigt, schaut Pornos mit Kindern, berührt sie intim. 1980 wird Peter H. ins Bistum München-Freising versetzt, es folgen Jahrzehnte der sexualisierten Gewalt durch den Priester.

Laut Studie erinnern sich Zeitzeugen in St. Cyriakus „durchaus an Auffälligkeiten von N. im Kontakt mit Kindern und Jugendlichen. Dass immer wieder Jungen bei ihm übernachten durften, dass er Mädchen nicht ministrieren ließ, dass er mit Jungen schwimmen und in die Sauna ging.“ Doch die, die etwas vermuteten, blieben stumm. „Zu dominant blieb die Erzählung vom großartigen Kaplan N., der eine tolle Jugendarbeit machte, der die Menschen fangen konnte“, so die Verfasser der Studie. Viele Betroffene hätten sich zunächst positiv an Peter H. erinnert, ihm sei es „ganz besonders“ gelungen, „sich bei den Jungen beliebt zu machen“.

St. Cyriakus in Bottrop: Ein pädophiler Täter folgt auf den nächsten

Auf Peter H. folgt der nächste pädophile Täter. Michael P., in der Studie P.S. genannt, wirkte von 1978 bis 1980 als Kaplan in St. Cyriakus, bevor er in mehrere Gemeinden im Bistum Essen, nach Osnabrück und später nach Magdeburg versetzt wurde. Bis November 2022 lagen dem Bistum Essen sechs Meldungen über Betroffene von sexualisierter Gewalt durch Michael P. vor. Drei davon fallen in den Zeitraum, als er in Bottrop eingesetzt war.

Helga Dill und Malte Täuberich haben die Studie vorgestellt.
Helga Dill und Malte Täuberich haben die Studie vorgestellt. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

So hat er laut Studie einen 14 Jahre alten Messdiener „in einer ,Kabbelei’ zu Boden gebracht, an den Armen festgehalten und versucht, ihn zu streicheln und zu küssen“. Das Opfer hat dies 1980 auch dem Personalverantwortlichen Klaus Malangré bei einem Gespräch geschildert. Michael P. stritt den Vorwurf ab.

Bottroper Missbrauchspriester tauschten sich wohl über Opfer aus

Die Verfasser der Studie schildern zwei weitere Fälle, in denen Michael P. Jungen gekitzelt, umarmt, an den Schritt gefasst und „anderweitig aufdringlich berührt hat“. Zu den Quellen gehören die Aktenvermerke des Personalverantwortlichen Klaus Malangré sowie das Gerichtsurteil aus dem Jahr 1992. Es folgen weitere Hinweise aus seiner Zeit in Essen und Osnabrück. Eine Liste von Verdachtsmomenten weist zudem darauf hin, dass es weit mehr Opfer sexualisierter Gewalt durch Michael P. gegeben haben könnte.

Studienleiterin Helga Dill sagt, es gebe Grund zur Annahme, dass sich Peter H. und sein Nachfolger Michael P. kannten und über mögliche Opfer ausgetauscht haben.

Missbrauchstäter in der Kirche: Spaltungsdynamik in den Gemeinden

Am Beispiel Michael P. gehen sie und die anderen Verfasser der Studie auch auf die Spaltungsdynamiken ein, die durch solche Anschuldigungen in den Gemeinden aufgekommen sind. 1992 kommt nach Bekanntwerden des strafrechtlichen Verfahrens gegen Michael P. ein Treffen zwischen Bistumsmitarbeitenden, Pfarrgemeinderat, Kirchenvorstand und Vereinsvorständen der Gemeinde zustande.

Ein ehemaliger Bistumsmitarbeiter beschreibt seinen Eindruck des Treffens so: „Was mich total überrascht hatte, die meisten da in dieser Runde haben sich äußerst positiv zu dem geäußert. Der hatte ja auch den Ruf, besonders tüchtig zu sein. Und haben gesagt, der ist so toll, und das kann doch jedem passieren und so.“ Die Rede ist auch von „Beklemmung beim Umgang in der Gemeinde mit den bekanntgewordenen Vorwürfen“.

Helga Dill spricht in der Präsentation der Studie von einem „erheblichen menschlichen Leid auf Gemeindeebene“, das äußerst nachhaltig sei, jahrzehntelang anhält. Bis heute.

Die komplette Studie ist zu lesen unter: www.bistum-essen.de. Wir werden weiter über die Details der Studie berichten.