Essen. Eine neue Missbrauchstudie hat dem Bistum Essen schwere Versäumnisse bei der Verfolgung der Täter und dem Schutz der Opfer vorgeworfen.
Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck ging auf die kleine Schar von Protestierenden zu und schüttelte ihnen freundlich die Hand. Die Menschen hatten sich vor dem Eingangsgebäude des Ruhrturms in Essen aufgebaut, in dem kurz darauf die Studie zum sexuellen Missbrauch in seinem Bistum vorgestellt wurde. Sie machten ihrem Unmut über die katholische Kirche und deren Umgang mit den Verbrechern Luft. „Bestrafung der Täter und Vertuscher“, stand auf den Plakaten der Betroffenen-Organisationen und Selbsthilfegruppen. Oder: „Die Kirche versinkt im Missbrauchssumpf. Bitte weiter austreten und Geld sparen.“ Oder gar: „Bischöfe gehören wegen Vertuschung ins Gefängnis.“
Overbeck, seit 2009 Bischof in Essen, sagte später ernst: „Wir sind ein lernendes Bistum, und ich bin ein lernender Bischof.“ Zuvor hatte Helga Dill, Psychologin und Geschäftsführerin des Münchener Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) die zentralen Ergebnisse der vom Bistum selbst in Auftrag gegebenen Studie zur sexualisierten Gewalt im Bistum seit 1958 in klaren Worten vorgetragen.
Die Opfer wurden im Stich gelassen
Danach war der jahrzehntelange Missbrauch im Bistum nur möglich, weil die Täter von der Kirche konsequent gedeckt und die Opfer im Stich gelassen wurden. Danach sind im Ruhrbistum bislang 201 Fälle von sexuellem Missbrauch vor allem durch Priester und Ordensleute beiderlei Geschlechts bekannt geworden. Insgesamt 423 Verdachtsfälle zählte das Bistum. In den weitaus meisten Fällen reicht der erste Zeitpunkt der Übergriffe bis in die 50er- bis 60er-Jahre zurück.
Anhand von sechs „Täterkarrieren“ untersuchten die Forscher, wie das „System Kirche“ die Täter schützte. Demnach beschränkte sich das Bistum Essen über Jahrzehnte hinweg darauf, Beschuldigte in andere Dienststellen zu versetzen. Dadurch konnten die Täter ihre Übergriffe meist ungehindert fortsetzen. Bis 2010, als der erste Missbrauchsskandal die katholische Kirche erschütterte, gab es keine Bemühungen seitens des Bistums, Betroffene von sexualisierter Gewalt zu unterstützen oder zu begleiten, so die Studie. „Sie wurden mit der Bewältigung ihrer Erfahrung allein gelassen und waren, wie ihre Familien, häufig den Anfeindungen innerhalb ihrer Kirchengemeinden schutzlos ausgeliefert“, erklärte Studienautorin Helga Dill.
Konflikte in den Gemeinden
Neu im Vergleich mit bisherigen Studien zum sexuellen Missbrauch ist der Blick auf die Auswirkungen solcher Taten in den einzelnen Kirchengemeinden. Wurde ein Fall bekannt, kam es in den Gemeinden fast immer zu Konflikten, Streit und Spaltungen. Die Taten wurden verschwiegen, geleugnet oder heruntergespielt. Betroffene, die es gewagt hatten sich zu offenbaren, wurden in der Folge oftmals ausgegrenzt, was ihre Schmerzen und ihre Isolation noch vertiefte.
Viele Gemeindemitglieder solidarisierten sich mit ihrem Pfarrer, der doch so viel Gutes für die Menschen geleistet habe, schildert Dill ihre Erkenntnisse. Dabei nutzten wohl manche Priester ihr Ansehen und ihre Autorität aus, da sie in der Tradition der katholischen Kirche als „geweihte Männer Gott nahe stehen und somit als unangreifbar gelten“, sagte Dill. Wurden die Pfarrer versetzt, wirkten sie oft trotzdem noch jahrelang weiter auf das Leben der „zurückgelassenen“ Menschen ein, entweder, weil weiterhin Kontakte bestanden oder weil es eine Art „Schweigegebot“ in Bezug auf die Vorwürfe gab.
Priesterausbildung reformieren
Künftig sollen betroffene Gemeinden bei der Aufarbeitung der Fälle unterstützt werden und Betroffeneninitiativen einen festen Etat für ihre Arbeit erhalten, schlägt die Studie vor. Die Kirche sollte Beratungsstellen einrichten und dabei Täter- und Betroffenenberatung strikt trennen. Überdies sollte die Kirche ihre Priesterausbildung reformieren und die Geistlichen besser betreuen. „Mit einer Abschaffung des Pflichtzölibats ist es nicht getan“, mahnte Dill und lobte, dass das Bistum seit 2010 bereits zahlreiche Maßnahmen ergriffen habe.
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Johannes Norpoth aus Gelsenkirchen begrüßte als Vertreter der Betroffenen die Ergebnisse der Studie. Eine solche Tiefenanalyse sei dringend notwendig, „angesichts des römischen Gerontoklerikalismus“ und seiner zuletzt wieder vor „Ignoranz und Arroganz triefenden Wortmeldungen“. Das Gutachten zeige die „unvorstellbare Wucht und Breite der Auswirkungen sexualisierter Gewalt“, so Norpoth, der auch Sprecher der Betroffenen bei der Deutschen Bischofskonferenz ist.
Aufarbeitung und Entschädigung
Prozesse von Vertuschung, Täterschutz und Diskreditierung von Betroffenen seien sichtbar geworden und straften jene Lügen, „die immer noch das Märchen der unsäglichen Einzeltaten erzählen und die systemischen Ursachen negieren wollen.“ Norpoth betonte, wie wichtig neben der Aufarbeitung auch die finanzielle Entschädigung für die Opfer sei. „Hier muss die Kirche einen deutlichen Schritt nach vorne machen“, forderte er.
Bischof Overbeck kündigte als Reaktion auf die Studie konkrete Verbesserungen an. „Wir müssen ehrlich sein: Es hat in der Vergangenheit in unserer Bistumsverwaltung massive Versäumnisse bis hin zur aktiven Vertuschung gegeben“, räumte er ein. Den Opfern wurde nicht geglaubt und sich nicht um sie gekümmert. „Dadurch wurde den vielen Betroffenen großes Unrecht getan. Zudem wurde vielfach auch nicht verhindert, dass sich diese Täter weitere Opfer suchen konnten.“
Ross und Reiter nennen
Dies nun mit Hilfe der Studie zu erkennen, sei ein erster Schritt. Aus den Erkenntnissen Konsequenzen zu ziehen, ein zweiter. „Ich werde zukünftig die Betroffenen wie auch die Kirchengemeinden noch stärker in den Blick nehmen“, kündigte der Essener Bischof an. Die Personalführung am Bistum werde neu organisiert, alle Personalakten seien künftig zugänglich. Zudem arbeite das Bistum an einem transparenten Entschädigungsverfahren für Betroffene, das neben einer Anerkennung ihres Leids auch die Übernahme von Therapiekosten oder psychosozialer Hilfe regeln soll.
Doch die Betroffenen wollen es dabei nicht bewenden lassen. „Wir fordern die Aufarbeitung eines jeden einzelnen Falles im Bistum“, sagte Johannes Norpoth. Ross und Reiter müssten genannt werden, nur so könne den Opfer Gerechtigkeit widerfahren. „Das muss jetzt passieren.“