Bochum. Pflegende Angehörige von Demenzkranken werden vom Staat allein gelassen - die Erkrankten erhalten keine Pflegestufe.

Nein, sie sei nicht wütend auf die Politiker. Nicht einmal wirklich verärgert darüber, dass nun das Jahr 2011 zu Ende geht, ohne dass die versprochene Pflege-Reform gekommen ist und sie weiter die Last für ihren an Demenz erkrankten Ehemann ganz alleine tragen muss.

Ute Kiesinger*, eine extrem rüstige und energisch wirkende 63-Jährige mit strahlenden Augen und einem flotten Kurzhaarschnitt ist niemand, der jammert. Nicht darüber, dass sie sich von ihrer knappen Frührente und der ihres Mannes keinen Pflegedienst leisten kann. Und nicht darüber, dass ihr Mann, wie fast alle Alzheimer-Patienten, weil er körperlich noch fit ist, keine Pflegestufe bekommen hat.

"Ich mach das, so lange, wie ich kann"

Nicht einmal jetzt jammert sie, obwohl nun schon knapp zwei Jahre vergangen sind, seit bei ihrem Mann die Diagnose Demenz gestellt wurde. Nur ganz kurz, wenn sie auf ihr Alter angesprochen und gefragt wird, wie lange sie wohl noch die alleinige Pflege für ihren Mann hinbekommt, ist ein kurzes Zögern zu spüren. „Ich mach’ das eben noch so lange, wie ich kann“, antwortet sie dann knapp. Im Gespräch mit der energischen Frührentnerin wird schnell klar, dass hier jemand sitzt und über sein Schicksal erzählt, der es gewohnt ist, allein klarzukommen.

Jahrelang sei ihr Mann auf Montage gewesen, nur am Wochenende zuhaus, erzählt sie nicht ohne Stolz – während sie zu Hause ihre drei Jungen großzog und nebenher noch in einem Blumenfachmarkt an der Kasse saß. Die Arbeit habe ihr viel Spaß gemacht, bis vor ein paar Wochen ging sie trotz Frühverrentung einen Tag die Woche noch weiter zur Arbeit. Doch damit ist jetzt Schluss.

"Ich erkenne ihn gar nicht wieder"

Vor ein paar Wochen hat sich der Zustand ihres Mannes so stark verschlechtert, dass sie ihren geliebten Job ganz aufgeben musste. Ihre letzte Zuflucht, dieser eine Tag, an dem sie bei der Arbeit noch ein bisschen Alltag und soziale Kontakte hatte, ist weg. „Inzwischen findet mein Mann nicht einmal mehr den Kühlschrank in der Küche“, sagt sie kopfschüttelnd. „Ich erkenne ihn gar nicht wieder.“ Wie bei vielen Ehepaaren, bei denen der eine dement ist, hat ein Rollentausch stattgefunden.

Herr Kiesinger, groß, athletisch gebaut, ein gestandener Mann, der früher dreimal die Woche zum Gewichte stemmen ging, ist aufgrund der Veränderungen in seinem Kopf inzwischen hilfloser als ein kleines Kind. Seine Frau ist nicht mehr Ehefrau, sondern Pflegerin. Eine Pflegestufe aber bekommt er nicht. Denn das Einstufungssystem des medizinischen Diensts richtet sich allein nach der körperlichen Gebrechlichkeit. Und körperlich fit ist Herr Kiesinger. Dass er nicht mehr weiß, dass Joghurt im Kühlschrank zu finden ist und Zahnbürsten zum Zähne putzen da sind, das berücksichtigt das Einstufungssystem nicht.

200 Euro Betreuungsleistung

Deswegen muss sich Frau Kiesinger weiterhin allein um ihren Mann kümmern. Dabei gäbe es in Bochum genügend Angebote, die sie entlasten könnten. Nur: „Dafür fehlt mir das Geld“. Hätte ihr Mann Pflegestufe eins, könnte sie sich einen ambulanten Pflegedienst leisten. So aber bekommt sie momentan nur 200 Euro Betreuungsleistung zusätzlich zu ihrer Rente. Eine Leistung, die Demenzkranken mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz seit Einführung des Pflegeleistungsergänzungsgesetz 2008 zusteht. Von diesem Geld kann Frau Kiesinger ihren Mann einmal die Woche für ein paar Stunden in das Betreuungsangebot der Alzheimer Gesellschaft Bochum bringen. Doch diese paar Stunden reichen kaum aus, um das Allernötigste zu machen.

"Ein paar Stunden mehr Zeit"

Da bei Herrn Kiesinger, wie bei den meisten an Demenz erkrankten Menschen das Kurzzeitgedächtnis nicht mehr gut funktioniert, kann sie ihn nicht mehr allein zu Hause lassen. Oder allein auf den Dachboden zum Wäsche aufhängen. Darauf angesprochen, was sie sich wünsche, ist die Antwort „ein paar Stunden Zeit“. Zeit, um mal durchzuschnaufen, um die Füße hoch zu legen, um sich mal um sich selbst zu kümmern. So dass sie selbst nicht in ein paar Jahren zum Pflegefall wird. Denn wer soll sich dann um sie kümmern?

In ihrer letzten Regierungsmitteilung Mitte November ließ das FDP-geführte Gesundheitsministerium mitteilen, dass mit einer Neudefinierung des Pflegebegriffs „leider“ nicht vor Beginn der nächsten Legislaturperiode zu rechnen sei. Bis dahin wolle man jedoch „kurzfristige Verbesserungen“ für demente Menschen und ihre pflegenden Angehörigen schaffen. Wie diese Unterstützung aussehen soll, wurde bis heute nicht näher erklärt.

*Name von der Redaktion geändert