Essen. . Wie Demenzkranke Menschen von ihrer Vergangenheit eingeholt werden: Wenn die Erinnerung an die jüngere Vergangenheit schwindet, bleibt oft nur noch das Trauma aus den Jugendtagen. Professor Nehen erklärt, warum es so schwer ist, diesen Patienten zu helfen.

Walter F. wird bald 92. Er lebt mit seiner Frau bei den Kindern auf einem Bauernhof, Enkel sind im Haus, Tiere im Stall, eigentlich ein schöner Platz für die letzte Zeit. Walter F. hat viele Jahre als Polizist seinen Mann gestanden, später als Rentner kräftig zugepackt, wenn es was zu tun gab. Ein langes Leben, ein erfülltes, von dem Walter F. aber nichts mehr weiß. Demenz. Die Krankheit hat wie ein Radiergummi die Bilder erst verwischt und dann verschwinden lassen. Zwei sind geblieben, Bilder aus dem Krieg. Wie er im Winter 44 auf dem Hilfskreuzer „Ill“ vor der norwegischen Küste um sein Leben zittert, als ein Torpedo das Schiff trifft und fast versenkt, oder wie er später im Emsland dem Tod entkommt, weil die Pferde vor seiner Kutsche die Gefahr wittern und durchgehen, kurz bevor eine Granate den Trupp trifft und alle tötet. Kriegserlebnisse. Üb er Jahrzehnte vergessen, verdrängt oder verschwiegen. Jetzt im Alter drängen sie mit Macht ins Bewusstsein der alten Menschen, erst recht, wenn eine Demenz ihnen die Tür geöffnet hat.

Professor Hans Georg Nehen ist seit 27 Jahren Chef des Geriatriezentrums Haus Berge in Essen. Er kann das Problem erklären: „Für die meisten Menschen, die den Krieg als Kinder oder junge Leute erlebt und erlitten haben, kamen danach die Ausbildung, Beruf, Ehe, Kinder. Da wirkt dann ein biologisches Prinzip. Der stärkere Reiz löscht den schwächeren aus. Wenn dann aber der Beruf vorbei ist und die Kinder weggezogen sind, dann kommen diese Erinnerungen massiv zurück.“

Jede Nacht kommt das Grauen zurück

Auch ohne Demenz kann das zu einer Belastung in den Familien werden. Wenn Opa vom Krieg erzählt, hören die Enkel bald nicht mehr zu. Es nervt. Auch wenn der Großvater sich eben nur was „von der Seele“ reden will. „Mit Gesunden immerhin kann man sprechen, ihnen sagen ‚es ist vorbei’. Aber selbst Leicht-Demente sind im Gespräch nicht mehr zu erreichen.“

Eine Frau Anfang 80 sucht jeden Tag ihre Puppe. Die Puppe ihrer Kindheit. In einer Bombennacht hat sie sie verloren. Ganz allein hat sie im Bunker gesessen, als die Welt explodierte. Die Mutter war noch mal zurückgelaufen. Um die Puppe zu holen, denkt sich das Kind. Doch die Mutter rettet stattdessen das Tafelsilber. Die Puppe verbrennt. Und wird 77 Jahre später zum Symbol dieser Minuten des Alptraums. Allein im Dunkeln, voller Angst. Niemand hilft. Wäre doch nur die Puppe da...

Professor Doktor Hans Georg Nehen, Chefarzt der Palliativmedizin im Geriatriezentrum Haus Berge in Essen.l
Professor Doktor Hans Georg Nehen, Chefarzt der Palliativmedizin im Geriatriezentrum Haus Berge in Essen.l © WAZ FotoPool

„Die Patientin empfindet die Emotion in diesem Moment des Erinnerns genauso stark wie im Moment des Erlebens.“ Nehen schildert noch einen ähnlichen Fall. „Ein Mann schrie jede Nacht ‚Feuer’. Niemand und nichts konnte ihn beruhigen. Das Entsetzen war ihm ins Gesicht geschrieben.“ Es stellt sich heraus, dass der Mann eine Szene aus dem Jahr 1945 immer wieder erlebt. Als Hitlerjunge soll er das „letzte Aufgebot“ verstärken. Er steht am Ende einer Schlange mit seinen Schulkumpels, als die Granate einschlägt. Er sieht, wie die Freunde zerfetzt werden. Die Netzhaut spielt Bilder ins Gehirn, die er fast ein Leben lang in den Hintergrund schieben konnte. Jetzt träumt er sie jede Nacht. Und schreit...

Nur Schlafmittel helfen

„Dem Mann muss man helfen. Und das geht nur mit Schlafmitteln. Schlafmittel nehmen Träume weg. Deshalb, mal ganz nebenbei, sollten Gesunde auch nie Schlafmittel nehmen, denn für Gesunde sind Träume wichtig.“

Nicht jeder, der den Krieg erlebt hat, leidet später. „Etwa ein Drittel hat Probleme. Wir wissen nicht, was die anderen so stabilisiert. Wie haben aber den Eindruck, dass das Milieu eine Rolle spielt. Stabile Beziehungen über die Jahrzehnte helfen. Ich habe mit einer Patientin gesprochen, die Grauenhaftes im Krieg erlebt hat, aber kein Belastungssyndrom zeigte. Auf die Frage nach dem schlimmsten Erlebnis ihres Lebens sagte sie: Als mein Mann vor drei Jahren starb. Vertraute Personen geben den Menschen Geborgenheit. Ich fürchte, wenn die Generation, die jetzt um die 50, 60 Jahre alt ist und ohne Krieg aufgewachsen ist, in einigen Jahren in das entsprechende Alter kommt, diese Beziehungslosigkeit über viele Jahre genauso zum Thema ihrer Demenz wird wie es der Krieg für die Alten jetzt ist. Das ist natürlich nur eine Vermutung.“

Der Krieg kennt nicht nur Opfer. „Und die Demenz trifft nicht nur nette Menschen.“ Auch alte Nazis und Rassisten. „Ein Mann ließ sich partout nicht von einer Schwester aus Südindien pflegen. Er sprach nur von dem ‘schwarzen Schwein, das darf mich nicht anfassen’.“ Die Schwester, vom Professor darauf angesprochen, blieb gelassen. „Ach ja, ich weiß doch, dass er krank ist.“ Auch Pflegepersonal, das aus Osteuropa stammt und mit Akzent spricht, hat’s bei den alten Herren menschlich nicht immer leicht.

Täter und Opfer

Und es kommt zu Begegnungen, die kaum zu ertragen sind. Immer zu den Mahlzeiten treffen sich zwei Männer einer Station. Der eine wiederholt unentwegt den Satz. „Was habe ich getan, was habe ich getan…“. Der zweite Mann ist auch in einer Gedankenschleife gefangen: „Morgen kommen sie mich holen.“ Es stellt sich heraus, dass der eine SS-Mann im Konzentrationslager war, der andere Mann Häftling. „Sie haben aber beide bis zu ihrem Tod nichts vom anderen erfahren. Es hat mich berührt, wie stark Opfer und auch Täter am Ende ihrer Tage unter dem Erlebten gelitten haben.“

Auch heute erleben Menschen ähnliche traumatische Erlebnisse: Polizisten, Sanitäter oder auch Soldaten. „Das Wichtigste ist, zunächst das Schweigen zu durchbrechen. Die Menschen damals haben das viel zu lange mit sich selbst ausgemacht. Heute gibt es gute Therapien, man muss nur früh damit anfangen.“