Bochum. „100 Prozent peruanisch-amazonisches Haar“ heißt das neue Stück im Schauspielhaus. Unser Rezensent erlebt Schwermut und Albernheit.
Stell dir vor, es ist Premiere und keiner geht hin. Ganz so schlimm ist es bei einer augenscheinlich nur mit halber Spannung erwarteten Aufführung im Schauspielhaus Bochum zwar nicht gekommen, und doch bleiben bei „100 Prozent peruanisch-amazonisches Haar“ in den Kammerspielen viele Plätze leer.
Bei Uraufführung in Bochum bleiben viele Plätze leer
Dafür könnte es mehrere Gründe geben: Vermutlich ist es nicht die beste Idee, eine Uraufführung auf einen Mittwoch zu legen. Auch der kryptische Titel des Abends wirkt eher abschreckend, und richtig viel darunter vorstellen kann man sich selbst nach der Aufführung nicht. Während der Proben trug der Abend noch den griffigeren Namen „Verflechtungen“ und wurde dann umbenannt. Und ach: Auch das Thema will einen nach 90 halbwegs kurzweiligen Minuten nicht so recht vom Sessel reißen.
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Zwischen Karnevalsgag und tiefer sitzenden Qualen
Kurz gesagt: Es geht um Haare. Wenn sie schütter und grau werden oder krankheitsbedingt ausfallen, führt dies bei vielen zu emotionalen Krisen – und auch Perücken sind für manche mehr als nur ein Karnevalsgag, sondern verstecken oft tiefer sitzende Qualen. Von solchen inneren Konflikten im Theater mitreißend zu erzählen, erweist sich jedoch als schwierig. Mehrere Geschichten rund um Haarwuchs und Haarausfall spielen Regisseurin Manuela Infante und das sechsköpfige Ensemble in ihrer Stückentwicklung durch, anrührend ist nur die letzte: Da steht Veronika Nickl plötzlich kahlköpfig auf der Bühne, und wie scheu und hilflos sie dabei schaut und wie liebevoll die Kollegen ihr über den Kopf streichen, ist die stärkste Szene dieses Abends.
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Der Rest wirkt etwas an den Haaren herbeigezogen: Da wird von einer älteren Schauspielerin erzählt, der plötzlich die Haare ausfallen („wahrscheinlich der Stress“). Da wird Sonnenkönig Ludwig XIV. über die Bühne geführt, dessen wallende Lockenpracht komplett künstlich gewesen sein soll. Da wird das sprichwörtliche Haar in der Suppe gefunden, vor dem sich die Schauspieler einmal tüchtig ekeln dürfen, und so manches wenig originelle Wortspiel (etwa vom kahlköpfigen Karl) wird durchgekaut.
Eine matte Schwermut liegt auf der Bühne, zwischendurch herrscht einiger Leerlauf, der nur durch den geschickten Einsatz eines Klaviers am rechten Bühnenrand aufgelockert wird. Das ist manchmal halbwegs lustig, manchmal auch komplett albern und mündet in leichter Kapitalismuskritik.
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Denn Perücken kommen nicht – wie manche vielleicht dachten – vom Amazonas, „sondern von Amazon“, wie es auf der Bühne heißt. Sie werden in Ländern wie China und Bolivien hergestellt. Wer so alles sein Haar dafür hergibt, damit junge Frauen in reicheren Ländern mit künstlichen Haarverlängerungen wie Rapunzel durch die Gegend laufen können, möchte man wahrscheinlich gar nicht so genau wissen.
Spielfreudiges Ensemble
Freude bereitet es, das Ensemble zu beobachten, denn das Stück ist klasse besetzt. William Cooper, Gina Haller, Veronika Nickl, Abenaa Prempeh, Jing Xiang und Lukas von der Lühe spielen eine Schauspieltruppe, die etwas unbeholfen über die Bühne stolpert, als würde sie bei den Theaterproben nicht so recht vom Fleck kommen. Überaus spielerisch gehen sie dabei vor, was sich auch in einem ansehnlichen Bühnenbild (von Rocio Hernández Marchant) widerspiegelt: Da hängen riesige schwarze Seile von der Decke herab, die zusammengeknotet wie überdimensionale Rasta-Locken aussehen. Viel Beifall.
Infos und Spieltermine
Das Stück „100 Prozent peruanisch-amazonisches Haar“ dauert etwa 90 Minuten ohne Pause. Weitere Termine am 11. Juni (Zehn-Euro-Tag), 16. Juni und 3. Juli. Karten: 0234 3333 5555.
Regisseurin Manuela Infante stammt aus Santiago de Chile. In der Spielzeit 2020/21 realisierte sie in Bochum bereits das Stück „Noise. Das Rauschen der Menge“ als Solo für die Schauspielerin Gina Haller.