Bochum. Erst Glückwünsche an den VfL, dann Europawahlkampf in der Sternwarte Bochum. Eine „interessante Location“, sagt der Chef der Bundes-SPD.
Lars Klingbeil zu Gast in Bochum. Einen Tag nach dem spektakulären Sieg des VfL in Düsseldorf und dem damit verbundenen Klassenerhalt in der Fußball-Bundesliga ist der Bundesvorsitzende der SPD in der Stadt. „Ich habe mich wahnsinnig für Bochum gefreut“, sagt der 46-Jährige, der Mitglied im Verwaltungsbeirat von Bayern München ist, mit Blick auf die Fanfreundschaft zwischen Bayern und dem VfL. Im Interview mit dieser Redaktion geht es aber nicht um Sport, sondern um den Stahlstandort Bochum, um Strukturwandel, Altschuldenregelung und die zunehmende Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker. Klingbeil hat im Europawahlkampf Halt gemacht an der Sternwarte in Bochum-Stiepel, wo er unter dem Stichwort „Weltall und Europa“ mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch kommt.
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Herr Klingbeil, Sie waren vor knapp 18 Monaten in Bochum und haben das Werk von Thyssenkrupp an der Essener Straße besucht. Warum sind Sie heute hier: in Bochum, aber auch an diesem besonderen Ort?
Lars Klingbeil: Ich bin hier, weil ich Tobias Cremer im Europawahlkampf unterstütze, weil ich mit Serdar Yüksel lange zusammenarbeite. Er ist ein Landtagskollege, mit dem ich mich sehr intensiv austausche. Diesen besonderen Ort hat die SPD Bochum ausgewählt. Als ich davon hörte, habe ich gesagt, das klingt nach einer sehr interessanten Location. An den Besuch vor 18 Monaten erinnere ich mich gut. Die Auszubildenden von Thyssenkrupp haben mir damals eine Glocke geschenkt, die sie selbst angefertigt haben. Die steht jetzt in meinem Büro. Mit Bochum bin ich außerdem durch Thomas Eiskirch verbunden. Er gehört zu einem Kreis von Oberbürgermeistern und Landräten, mit denen ich ständig im Austausch bin. Er ist da einer der führenden Stimmen. Und dann gibt es noch politisch-persönlich eine besondere Beziehung zu Bochum. Im Bundestagswahlkampf 2021, den ich als Wahlkampfmanager von Olaf Scholz geführt habe, hatten wir die erste große Kundgebung hier. Zu einer Zeit, als keiner an uns geglaubt hat. Es waren dreimal so viele Leute da wie wir gehofft hatten und da ging es los mit der Aufholjagd. Daran denke ich öfter.
Als sie im Dezember 2022 hier waren, da herrschte bei Thyssenkrupp noch Aufbruchstimmung. Es ging um den Grünen Stahl, um große Investitionen, um Milliarden-Hilfen, um die Zukunft der Branche und des Unternehmens. Diese Stimmung scheint verpufft zu sein, oder?
Klingbeil: Die wirtschaftspolitische Lage hat sich verschärft, Thyssenkrupp machen vor allem die hohen Energiepreise und die billigen Stahlimporten aus China zu schaffen. Es liegt am Bund, am Land, an Unternehmensleitung, IG Metall und Betriebsrat, gemeinsam gute Lösungen zu finden. Wobei ich mit Sorge wahrnehme, dass die Arbeitnehmerseite und vor allem der Betriebsrat ausgegrenzt wird. Die Forderung der Arbeitnehmer und auch der SPD in NRW, dass jetzt ein Konzept vorgelegt werden muss, ist richtig. Sie haben da meine volle Unterstützung, wir stehen auch mit dem Betriebsrat eng im Austausch.
Darf ein Unternehmen, das Mitarbeiter entlassen will, Milliarden-Hilfen für die Umstellung auf die Produktion von grünem Stahl bekommen?
Klingbeil: Ich habe ein großes Interesse, dass wir in Deutschland grünen Stahl produzieren und dass Standorte wie Duisburg und Bochum gestärkt werden. Wir müssen darum kämpfen, dass grüner Stahl in Deutschland produziert wird. Die Milliarden-Zusage aus Berlin ist dafür wichtig. Aber natürlich muss man im Land Nordrhein-Westfalen sehr klar darüber reden, unter welchen Bedingungen es Geld gibt. Die Landesregierung muss dafür klare Kriterien aufstellen. Der für September anvisierte Stahlgipfel würde aus meiner Sicht zu spät kommen, er muss sehr bald stattfinden. Alle Beteiligten müssen an einen Tisch, es muss eine Standortgarantie und Zusagen an die Beschäftigten geben. Das Hauptziel ist für mich, hier ein starkes Unternehmen zu halten und den Standort zu sichern, damit grüner Stahl aus Deutschland kommt und die fleißigen Arbeitnehmer eine Jobgarantie haben.
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Das Ruhrgebiet steckt mitten in einem lange anhaltenden Strukturwandel, Bochum ist dafür ein gutes Beispiel; allein schon durch die erfolgreiche Entwicklung nach der Schließung des Opel-Werks. Allerdings mehren sich die Stimmen, die sagen, wir dürfen vor lauter Wandel die Industrie nicht vergessen. Wie sehen Sie das?
Klingbeil: Ein Stopp von Veränderungen würde sehr schnell dazu führen, dass Deutschland schwächer wird. Veränderungen müssen sein, aber wir müssen sie gemeinsam zu Verbesserungen machen. Das wissen auch die Industrieunternehmen. Für mich ist wichtig, dass wir Industrie erhalten können, Arbeitsplätze sichern und natürlich auch die Verbraucherinnen und Verbraucher mitnehmen. Wenn wir nur noch Autos in Deutschland haben, die sich keiner leisten kann, die aber elektrisch fahren, dann verlieren wir die Akzeptanz für den Wandel. Ich möchte auch nicht, dass der deutsche Automobilmarkt von chinesischen Firmen bestimmt wird. Wenn Technologien und Innovationen aus Deutschland kommen und andere Länder sich daran orientieren, dann wird das diesen Standort über Jahrzehnte sichern. Wir müssen das alles frei von jeder Ideologie diskutieren. Es müssen alle klugen Köpfe an einem Tisch sitzen und pragmatische Wege finden. Ich weiß, dass die SPD mal Phasen hatte, in denen sie die Industriepolitik nicht stark verfolgt hat. Aber als SPD-Vorsitzender kämpfe ich um jeden Industriearbeitsplatz.
Die Europawahl steht an; es ist keine, die viele Wähler an die Urnen zieht. Vor jeder Wahl zum EU-Parlament sind Sätze zu hören wie „Was haben wir von Europa, was nutzt das mir und meiner Stadt? Was entgegen Sie den Menschen darauf?
Klingbeil: Das ist ganz unterschiedlich. Der eine ist dankbar dafür, dass man nicht stundenlang an der Grenze im Stau steht. In einer Stadt wie Bochum mit seiner Universitätslandschaft bringt es Vielfalt und viele Menschen aus ganz Europa, die hier studieren und die Stadt bereichern. Und das Argument, das am meisten zählt, ist, dass jeder vierte Arbeitsplatz in diesem Land an Europa hängt. Wenn Ideen von rechtsextremen Parteien umgesetzt würden, Europa zu zerstören und zum Kontinent der Vaterländer zurückzukehren, würde das jeden vierten Arbeitsplatz kosten; auch hier in der Region. Dann wäre der Wohlstand massiv gefährdet. Europa ist in meinen Augen auch ein Garant dafür, dass es uns ökonomisch gut geht und wir in Frieden leben. Das sollte sich jeder bewusst machen. Wir könnten als Deutschland global gar nicht bestehen. Wenn wir als Europa nicht zusammenarbeiten, hätten wir gegen Länder wie USA, China, Indien gar keine Chance.
Kommen diese Botschaften bei Zweiflern an?
Klingbeil: Wir sind gerade in einer Phase, wo die Umbrüche so groß sind, dass sie merken, dass sie für Europa und die europäische Idee kämpfen müssen. Viele Unternehmen positionieren sich gerade, auch Künstlerinnen und Künstler. Das hat damit zu tun, dass sich die Feinde Europas aufgemacht haben und diesen Kontinent zerschlagen wollen. Und da sind viele aufgewacht. Auch der Blick auf die AfD hat sich stark gewandelt. Wenn ich zurückblicke, war der negative Höhepunkt das Heizungsgesetz, als viele Menschen gesagt haben, jetzt wähle ich die AfD. Da war sie der Protest. Dann kamen die Deportationspläne und es hat eine Debatte in der Gesellschaft begonnen. Menschen haben sich um ihre Arbeitskollegen gesorgt, um ihre Mitspieler im Verein, um Klassenkameraden. Zwölf Millionen Menschen sollten nach Plänen der Rechtsextremen verschwinden. Das und anderes, wie die zunehmende Verrohung in der Gesellschaft, hat den Blick bei einigen geändert. Man hat gemerkt, dass die AfD keine Protestpartei ist, sondern eine knallharte rechtsextreme Partei, die was ganz anderes vorhat mit diesem Land. Die AfD hat in den Umfragen deutlich verloren und trotzdem sind mir die Zustimmungszahlen noch zu hoch.
Die Sicherheit von Politikern ist in jüngster Zeit in den Fokus gerückt; auch und gerade die von ehrenamtlichen Politikern. Es häufen sich Angriffe, Pöbeleien, Verunglimpfungen. Auch Sie werden Anfeindungen persönlich kennen.
Klingbeil: Ja, ich persönlich bin auch schon bedroht worden. Aber es gab nie irgendetwas, das in Richtung körperliche Gewalt ging. Es geht auch nicht um mich. Es geht um viele ehrenamtlichen Kollegen und gerade auch Kolleginnen, die kriegen ein Vielfaches von dem ab, was ich abbekomme. Am Montag war ich in Brandenburg, da hat man mir gesagt, es würden fünf-, sechsmal so viele Plakate zerstört wie bei den letzten Wahlen. Da verändert sich gerade etwas. Und das betrifft ja nicht nur die Politik. Feuerwehrleute erzählen so etwas. Ulla Schmidt (Anm. d. Red.: die frühere Bundesgesundheitsministerin), die ja Präsidentin der Lebenshilfe ist, hat mir erzählt, vergangene Nacht sei in Mönchengladbach eine Einrichtung von Menschen mit Behinderung attackiert worden, menschenverachtende Parolen seien auf Wände geschmiert worden. Es gibt eine Verrohung in der Gesellschaft. Und da werden die Rechtsextremen offensiver. Dagegen hilft, das alles zu thematisieren; aber auch zu prüfen, wie man Kommunalpolitiker besser schützen kann; z.B. in dem man die Adressen nicht veröffentlicht, dass die Polizei bei Veranstaltungen präsent ist und dass solche Taten sehr schnell und konsequent bestraft werden.
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Brauchen wir dafür härtere Gesetze?
Klingbeil: Nicht zwingend. Man braucht vielleicht Änderungen, wie zum Beispiel beim Auskunftsgesetz. Dass Innenministerin Nancy Faeser das geändert hat, ist richtig. Es geht um eine konsequente Umsetzung. Wer Menschen anpöbelt oder mit dem Messer bedroht, muss schnell merken, dass das keine Lappalie ist; ebenso der, der Plakate herunterreißt oder auf Sylt Naziparolen grölt. Da muss es sofort eine Konsequenz geben.
Lassen Sie uns noch über das Thema Altschulden sprechen. Viele Städte; gerade, aber nicht nur im Ruhrgebiet, warten sehnlichst darauf, weil ihre Handlungs- und Investitionsfähigkeit massiv bedroht oder schon geschwunden ist. Ist die Chance für eine Regelung vertan oder sehen Sie noch einen Weg, möglichst schnell zu einer Lösung zu kommen?
Klingbeil: Es steht klar im Koalitionsvertrag drin, dass wir die Altschuldenregelung wollen. Die finanzpolitische Situation hat sich verschärft, aber wir kämpfen als SPD in der Ampel darum, dass Finanzminister Christian Lindner das umsetzt, was verabredet ist. Wir wollen, dass die Gemeinden gestärkt werden und deshalb muss die Altschuldenregelung kommen.
Hand aufs Herz, wie optimistisch sind Sie, dass Sie kommt?
Wir stehen vor schwierigen Haushaltsberatungen, uns fehlen zig Milliarden. Meine Vorstellung ist, dass wir nicht bei den Kommunen sparen, nicht bei der Sicherheit, nicht bei der wirtschaftlichen Stärkung des Landes. Wir müssen nur noch den Finanzminister überzeugen, dass unser Weg besser ist.