Bochum. Sexuell übertragbare Krankheiten wie Herpes und Chlamydien werden unterschätzt. Wie die Beratungsstelle „WIR“ in Bochum bundesweit Vorreiter ist.
Seit Jahren steigt die Zahl der Infektionen, die sexuell übertragen werden können (STI), das zeigen Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Robert-Koch-Instituts (RKI). Unter STIs fällt ein großes Spektrum an Infektionen. „Über HIV wissen viele noch Bescheid, dann komme lange nichts“, sagt Adriane Skaletz-Rorowski, geschäftsführende Abteilungsleiterin im Walk in Ruhr (WIR), Zentrum für Sexuelle Gesundheit und Medizin.
Während Infektionen mit HIV jedoch tendenziell eher zurückgehen, nehmen jene mit Chlamydien, Gonorrhoe und Syphilis zu, so das Gesundheitsamt Bochum. Als Beispiel: Laut aktuellen Zahlen des RKI sind die Syphilis-Fälle in Bochum zwischen 2021 und 2022 um 106,5 Prozent auf 35 Fälle angestiegen. Das Thema sexuelle Gesundheit ganzheitlich anzugehen, darum dreht sich die Arbeit des WIR, das deutschlandweit eine Vorreiterrolle einnimmt.
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Das WIR in Bochum: Ein Vorreiter in Deutschland
Im Frühjahr 2016 hat das Zentrum am St. Elisabeth-Hospital des Katholischen Klinikums Bochum eröffnet. Während die Angebote für sexuelle Gesundheit vielerorts „zerfleddert“ sind, vereint das WIR verschiedene Aufgaben unter einem Dach: Beratung, Information, Tests, medizinische Behandlung, Prävention, Psychotherapie und Selbsthilfe im Bereich sexueller Gesundheit.
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„Vorher sind viele Patientinnen und Patienten durch die räumliche Trennung verloren gegangen“, sagt Skaletz-Rorowski. Deutschlandweit ist es laut eigener Aussage das einzige Zentrum mit solch einem ganzheitlichen Angebot. „Wenn jemand einen positiven Test beim Gesundheitsamt hat, geht die Person zwei Türen weiter, um sich weiter beraten zu lassen“, sagt Skaletz-Rorowski. So ergänzen sich Gesundheitsamt, medizinische Ambulanz, Aidshilfe, erweitert durch Angebote von Pro Familia, Rosa Strippe und Madonna.
Auch die sogenannten „Sexual Health Adviser“ nach angloamerikanischen Vorbild machen das Zentrum in Deutschland einzigartig: Sie sitzen direkt am Eingang des Zentrums, informieren, beraten und vermitteln die Klientinnen und Klienten an die richtigen Expertinnen. Der große Vorteil: „Nicht alle wissen, wohin sie müssen. Wir beraten sie.“
Warum bleiben viele Infektionen häufig jahrelang unentdeckt?
„Je nach Erreger sind 80 Prozent der STIs symptomlos“, sagt Anja Potthoff, Abteilungsärztin im WIR Zentrum. Das sei ein Hauptgrund, warum viele Infektionen unentdeckt bleiben, so das Gesundheitsamt Bochum. „Viele Krankheiten werden zu spät diagnostiziert. Man trägt die Infektion unentdeckt in sich, ist hoch ansteckend, gibt sie weiter und hat mit teils schweren Folgeschäden zu kämpfen“, führt Potthoff weiter aus.
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Schätzungsweise die Hälfte der Patientinnen und Patienten in der Kinderwunschpraxis sind aufgrund einer jahrelang unentdeckten Chlamydien-Infektion unfruchtbar, Infektionen mit humanen Papillomviren (HPV) oder auch mit Hepatitis B können Krebserkrankungen zur Folge haben, eine nicht behandelte HIV-Infektion Aids.
Doch selbst wenn Symptome auftreten, werde häufig nicht an STIs gedacht: „Wenn Sie Halsschmerzen haben, haben Sie schonmal an Tripper gedacht, bei Gürtelrose an HIV oder bei Brennen beim Wasserlassen an einen Pilz?“, fragt Anja Potthoff. Zu den häufigsten Symptomen gehören wiederum Jucken und Brennen im Intimbereich oder beim Wasserlassen, Schmerzen beim Sex, ungewöhnlicher Ausfluss oder Hautveränderungen. „Häufig haben sie Kontakte zum Medizinsystem, aber keiner kommt auf die Idee, einen STI-Test zu machen.“
WIR in Bochum: Geschlechtskrankheiten vorbeugen
Regelmäßiges Testen sei der beste Schutz. „Dafür kann man sich individuell bei einem Gesundheitsamt beraten und einen Test machen lassen, der auch anonym möglich ist“, sagt Skaletz-Rorowski. Da bei einem reinen Genitalabstrich oder Urintest zwei Drittel der Infektionen übersehen werden können, sei ein zusätzlicher Oral- oder Analabstrich, auch ein Bluttest häufig sinnvoll. Wer einen positiven Test hat, kann dann anonym über die „Partner Notification“ des WIR-Zentrums eine Nachricht an Sexualpartnerinnen und -partner schicken, mit der Info: „Lass dich testen, du hattest einen Risikokontakt.“
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Um sexuell übertragbare Infektionen vorzubeugen, sei auch das frühzeitige und gezielte Sprechen über Sexualität, Infektionen und Übertragungswege wichtig. Daher gehe das WIR-Zentrum überall da hin, wo sexuell aktive Menschen anzutreffen sind: Schulen, Seniorenheime, Bochum Total, das Libella-Festival und so weiter. „Das Thema und auch die Sprachlosigkeit darüber sind überall Teil der Gesellschaft.“
Unsicherheiten bei Geschlechtskrankheiten
Die starke Tabuisierung von STIs kann auch psychische Auswirkungen haben. „Es ist für die allermeisten Menschen eine Ausnahmesituation. Sie hinterfragen die Partnerschaft, haben Schuldgefühle und existenzielle Krisen. Nach einer behandelten Krankheit können Unsicherheiten bleiben: „Wenn ich meine Tage habe und sich etwas anders anfühlt, denken einige, sie hätten sich wieder mit etwas infiziert“, erzählt Skaletz-Rorowski.
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Während Jugendliche bei der Aufklärung häufig im Fokus stehen (auch im WIR -Zentrum gibt es zweimal die Woche eine Jugendsprechstunde), bleiben Seniorinnen und Senioren zumeist unberücksichtigt. Jedoch: „Die Zahlen von Ansteckungen steigen, da viele denken, sie können keine Kinder mehr bekommen und deswegen wird das Kondom weggelassen oder denken, HIV bringt einen nicht mehr um.“ An andere Infektionen werde nicht mehr gedacht, aber: „Auch Senioren benutzen Datingapps, mit Viagra ist auch mehr möglich als früher, durch ein schlechteres Immunsystem besteht aber ein höheres Ansteckungsrisiko.“
So finanziert sich das WIR-Zentrum in Bochum
Die einzelnen Kooperationspartner im WIR-Zentrum sind über unterschiedliche Mittel finanziert. Gelder einzuwerben, verlangt Ressourcen und Geduld. Daher sie auch die Politik gefragt, Strukturen dauerhaft zu finanzieren und zu unterstützen. Für die Etablierung des Zentrums sei auch der Wille der Stadt Bochum wichtig gewesen. Diese finanziere beispielsweise eine Gynäkologin. „Das ist nicht selbstverständlich“, sagt die Leiterin Adriane Skaletz-Rorowski.
Wer sich über die neuen Entwicklungen zu HIV informieren möchte, kann nach vorheriger Anmeldung zum „HIV-Update 2024“ am Dienstag, 18. Juni um 19 Uhr in die Große Beckstraße 12 kommen.