Bochum. Pro Familia in Bochum wird 50. Die Leitung blickt zurück. Über Tausende Beratungen, eine große Hürde der Zukunft und die Penisvermessungsstudie.
50 Jahre ist es her, dass in Bochum die Beratungsstelle Pro Familia eröffnet hat, damals noch an der Windmühlenstraße, zur Verfügung standen zwei kleine Räume. Die Zahl der Beratungen hat sich seitdem vervielfacht – ebenso wie die Zahl der Räumlichkeiten in der Innenstadt. Ulrike Tensmann und Jörg Syllwasschy, Leitungsteam von Pro Familia, blicken zurück – und in die Zukunft.
Pro Familia ist nun seit 50 Jahren in Bochum, genauso lange setzen Sie sich für die Abschaffung der Paragrafen 218 und 219 ein – die Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen sowie das sogenannte Werbeverbot.
Jörg Syllwasschy: Das Thema Schwangerschaftsabbruch ist immer noch ein schwieriges Feld. Hier prallen Werthaltungen aufeinander. Der Abbruch einer Schwangerschaft ist strafbar, bleibt aber straffrei, wenn zuvor eine Beratung stattgefunden hat. Die Beratungen sind wichtig, aber wenn Frauen klar in ihrer Entscheidung sind, dürfen sie nicht das Ziel haben, dass Frauen sich rechtfertigen müssen. Es wäre schön, wenn die Beratungspflicht wegfallen würde.
Warum?
Jörg Syllwasschy: Alle Beraterinnen und Berater wissen, dass hinter einem Schwangerschaftsabbruch immer eine große Auseinandersetzung und eine Entscheidung steckt, die Frauen nicht so einfach treffen. Hinzu kommt, dass die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland vergleichsweise niedrig ist. Dazu tragen Prävention oder auch Verhütungsmittelfonds, wie es sie hier in Bochum gibt, bei.
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Die Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, sinkt immer weiter. Wie ist die Situation in Bochum?
Ulrike Tensmann: In Bochum gibt es nur noch einen Arzt, der Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Auch in der Umgebung ist die Zahl niedrig. Hinzu kommt, dass es kein Krankenhaus gibt, das einen stationären Abbruch durchführt. Es ist eine große Herausforderung für die nächsten Jahre, neue Ärztinnen und Ärzte für diese Aufgabe zu gewinnen. Daher engagieren wir uns in der Arbeitsgruppe „Versorgungssituation Bochum“ u. a. mit städtischer Beteiligung und bieten Fortbildungen für die Medizinstudierenden der Ruhr-Universität Bochum an.
Sind Sie zuversichtlich, dass sich so etwas verändert?
Jörg Syllwasschy: Es ist ein mühsamer Weg.
Woran liegt das?
Ulrike Tensmann: Für den hohen zeitlichen Aufwand und die hohen Anforderungen ist die Bezahlung zu gering. Die Ärztinnen und Ärzte haben ohnehin viel zu tun. Für einen medikamentösen Abbruch möchten sie z. B. nicht zusätzlich in eine Rufbereitschaft, die aber notwendig wäre. Eine weitere Notwendigkeit besteht in der medizinischen Ausbildung, in der der Schwangerschaftsabbruch praktisch nicht vorkommt. Außerdem müssen Ärztinnen und Ärzte in diesem Bereich vor Anfeindungen geschützt werden.
Pro Familia bietet aber mehr an als nur die Schwangerschaftskonfliktberatung.
Ulrike Tensmann: Definitiv. Der Anteil liegt bei ungefähr zehn Prozent. Hinzu kommen Beratungsgespräche zu den Themen Familienplanung, Kinderwunschberatung, Pränataldiagnostik, Paar- und Sexualberatung, Krisen in der Schwangerschaft, Schwangerenberatung und Beratung nach Geburt. Einen großen Anteil hat auch die Prävention.
Mit welchen Problemen sind Sie in Ihrem Arbeitsalltag zudem konfrontiert?
Jörg Syllwasschy: Wir leben in einem Zeitalter der sexuellen Überinformation. Die Konsequenz ist, dass Jugendliche und Erwachsene völlig überfordert sind aufgrund der großen Menge an Informationen. Sie haben ein unheimlich großes, theoretisches Wissen über Geschlechtsverkehr, wissen aber z. B. in der Praxis nicht einmal, wie der erste Kuss funktioniert oder was ihre eigenen Bedürfnisse sind. Unsere Botschaft ist, dass es hilft, miteinander zu reden. Darum geht es, in der Partnerschaft, zwischen Kindern und Eltern oder wenn nötig in einer Beratungsstelle.
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Herr Syllwasschy, Sie arbeiten seit mehr als 40 Jahren bei Pro Familia. Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Jörg Syllwasschy: Dazu gehört sicherlich die Penisvermessungsstudie mit der Universität Essen im Jahr 2000. Es gab vorher so gut wie keine Zahlen über die wirkliche Größe. Die Ursache ist wohl, dass das Schamgefühl von Männern viel ausgeprägter ist als öffentlich zugegeben. In Zusammenarbeit mit Schulen haben wir 111 junge Männer, die gerade volljährig waren, akquiriert. Zudem gab es Vermessungen bei 33 älteren Männern an der Uniklinik in Essen.
Welches Ergebnis hatte die Studie?
Jörg Syllwasschy: 20 Prozent haben Probleme mit herkömmlichen Kondomen, weil sie zu groß sind. Die Kondome können also abrutschen. Zwar gibt es kleinere Kondome, die sind aber auf dem Markt nicht gut vertreten. Der Nachholbedarf bleibt groß.
Das ist nun über 20 Jahre her. Hat sich seitdem etwas getan?
Pro Familia: Zahlen und Kontakt
Bei Pro Familia in Bochum arbeiten elf Personen, darunter u. a. eine Ärztin, Sozialarbeiterinnen, Psychologen und Präventionskräfte.
2020 gab es 1743 Beratungsfälle – mit 2615 Gesprächen. Den größten Anteil hatten dabei die Themen Familienplanung und Kinderwunsch (927). 510 Personen kamen zur Schwangerschaftsberatung, 595 zur Schwangerschaftskonfliktberatung. Ein weiterer Schwerpunkt von Pro Familia in die Prävention. 1501 Menschen nahmen 2020 daran teil, 2019 waren es mehr als doppelt so viele. Der Grund: Corona.
Seit 2013 befindet sich die Beratungsstelle an der Bongardstraße 25 in der Bochumer Innenstadt. Die Öffnungszeiten: montags und mittwochs zwischen 9 und 12 sowie 14 und 17 Uhr, dienstags und donnerstags zwischen 14 und 17 Uhr, freitags zwischen 9 und 12 sowie 13 und 15 Uhr. Dienstags und donnerstags findet zudem eine Jugendsprechstunde statt.
Kontakt: Tel. 0234 123 20 oder per E-Mail unter bochum@profamilia.de. Infos unter www.profamilia.de/bochum.
Jörg Syllwasschy: Was wir damals an Öffentlichkeit erreicht haben, war enorm. Nach der Studie hatten wir zum Beispiel Kontakt zu Schulbuchverlagen, aber da würde ich sagen: Das sind Betonköpfe, die sich mit Neuerungen schwertun. Bis heute gibt es kein Biologiebuch, das Zahlen nennt. Frauenkörper wurden Tausende Male vermessen, was den Männerkörper angeht, befinden wir uns in der Steinzeit. Jugendliche können keine Antwort auf die Frage finden, welche Größe „normal“ ist. Um das aufzulösen, bringen wir in die Schulen Anschauungsmodelle in Originalgröße mit.
In Erinnerung bleiben aber sicherlich auch besonders Schicksale einzelner Menschen, oder?
Ulrike Tensmann: Definitiv. Da gibt es ganz spezielle Fälle, die einem im Kopf bleiben, tragische Fälle.
Jörg Syllwasschy: Ich erinnere mich noch genau. Als wir vor vielen Jahren einen Elternabend vorbereiteten, kam auf einmal eine junge Frau zu uns, die hochschwanger mit Zwillingen war und bei der die Wehen einsetzten. Sie hatte nicht mal eine Krankenversicherung. Wir konnten sie zu einer Frauenärztin vermitteln, zu der sie Vertrauen hatte und ihr helfen konnte.