Bochum. In den 70ern brach die Textilbranche im Revier weg. Sie wurde geopfert, bilanziert eine Forscherin. So erlebte das Steilmann-Personal das Aus.
Weitgehend geräuschlos ist ab den 70ern ein Industriezweig im Revier weggebrochen, der ebensoviele Menschen beschäftigte wie der Bergbau: die Textil- und Bekleidungsindustrie. Inwiefern das mit der vornehmlich weiblichen Belegschaft zusammenhängt, erforscht RUB-Forscherin Alicia Gorny. Auch frühere Mitarbeitende der Klaus Steilmann GmbH & Co. KG in Wattenscheid können vom Niedergang der Branche berichten.
Textilbranche brach zusammen: So erging es Wattenscheider Steilmann-Mitarbeitenden
Ein Wirtschaftszweig, der Mitte des 20. Jahrhunderts aufblühte, rund 25 Jahre lang boomte, enorme Gewinne abwarf und dann so schnell wieder verschwand, wie er gekommen war, so fasst es Alicia Gorny, Doktorandin am Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Uni, zusammen. „Die Bekleidungsbranche ist in Deutschland gestorben, weil es politisch nicht gewünscht war, sie zu halten“, bilanziert sie nach jahrelanger Recherche in Archiven.
Gorny analysierte Gewerkschaftsprotokolle, Arbeitsgerichtsakten, den Schriftverkehr des Wirtschaftsministeriums und interviewte frühere Näherei-Beschäftige.
Erste Mini-Nähereinen entstanden in Saalkneipen
Doch wie entstand der Textilboom? „Nach Kriegsende wollte man die Frauen wieder aus den Zechen und Stahlwerken herausdrängen“, so Gorny. Als sich herauskristallisierte, dass Westdeutschland von der Textilindustrie im Osten nicht mehr profitieren konnte, entstanden hierzulande unzählige Mini-Nähereien – viele in Bochum, Wattenscheid oder Gelsenkirchen. „Man brauchte ja nur ein paar Nähmaschinen, einen Raum – das war zu Beginn auch mal eine Saalkneipe – und Leute, die nähen können, also Frauen.“
Im Bereich der Konsumgüter kletterte die Textilbranche auf Platz eins bei den Umsätzen. Doch dann wurden die Nähereien zunächst nach Südeuropa, später nach Asien ausgelagert. „Ab den 70ern ging die Branche den Bach herunter.“ Dass das in der Öffentlichkeit wenig Beachtung fand, hänge zum einen mit der Größe der Betriebe zusammen. „Wenn ein Betrieb mit 10 oder 50 Mitarbeitenden insolvent ging, war das kaum eine Notiz in der Zeitung wert.“ Nur wenige Textilfirmen hatten so viel Personal wie Steilmann, der in besten Zeiten 6000 Mitarbeitende zählte.
„Die Textilindustrie wurde geopfert“
Zum anderen habe der politische Wille gefehlt, die vornehmlich von Frauen besetzen Arbeitsplätze zu erhalten. „Man war bereit, diese Industrie zu opfern“, sagt Gorny. „Die Politik war dazu geneigt, den Schwellenländern die Textilindustrie zu überlassen, damit diese nicht in die Technologien gehen.“
Ihre Forschung legt zudem nahe, dass die Jobs im Textilsektor als „wenig attraktive Arbeitsplätze“ betrachtet wurden. So habe sich die Politik nicht für den Erhalt der Arbeitsplätze eingesetzt. „Da die Belegschaft zu 80 Prozent weiblich war, sagten sich die Politiker: ,Naja, die Frauen haben ja noch einen Ernährer zu Hause“, so die Wissenschaftlerin.
Dabei arbeiteten zeitweise rund 800.000 Menschen in der Bekleidungsindustrie, davon die meisten im Ruhrgebiet und Münsterland, erläutert Gorny. Das entspreche in etwa der Zahl der Beschäftigten in der Montanindustrie, die öffentlich weit mehr Beachtung fände. „Früh war klar, dass die Politik da keine Subventionspakete schnüren wird, wie im Bergbau“, so Gorny. Die vielen Firmeninsolvenzen in der Region hatten nicht etwa großangelegte Umschulungsmaßnahmen zur Folge.
Auch interessant
Doch sang und klanglos hätten die Näherinnen den Arbeitsplatzverlust nicht hingenommen, organisierten sich in Gewerkschaften zum Arbeitskampf – wenn auch ohne Erfolg.
Vom Leid des Untergangs der Textilbranche kann Katrin Lorenz-Wehmeyer aus eigener Erfahrung berichten. Seit ihrer Lehre 1987 arbeitete sie in verschiedenen Bereichen und Untermarken der Steilmann GmbH, die sich vergleichsweise noch lang halten konnte. Laut RUB-Forscherin Alicia Gorny profitierte das Unternehmen auch von den Insolvenzen der Mitbewerber, kaufte beispielsweise deren Maschinen auf.
Auch interessant
„Steilmann war eine Familie“
In den 90ern seien nach und nach alle Produktionsstätten geschlossen worden, berichtet Lorenz-Wehmeyer. Seitdem habe sich die Stimmung in dem eigentlich sozialen Betrieb deutlich verschlechtert. Eine Kündigungswelle folgte auf die andere. „Steilmann war eine Familie“, so die ehemalige Mitarbeiterin. „Doch die Existenzängste führten dazu, dass man sich einander nicht mehr das Schwarze unter den Nägeln gegönnt hat.“ Im April 2002 stand die damals 34-jährige Mutter auf der Straße, ohne einen Plan B in der Tasche.
An einen Arbeitskampf um die wegfallenden Jobs kann sie sich nicht erinnern. „Es gab keine Streitkultur. Und als es dann nötig gewesen wäre, waren keine Leute da, die gestritten hätten“, so Lorenz-Wehmeyer.
Zu denen, die doch stritten, gehörte Jürgen Dieckmann, der noch bis zur Übernahme der Firma durch die Miro-Radici-Gruppe 2006 und der späteren Insolvenz bei Steilmann blieb. „Wenn es dem Laden gut geht, gibt’s nichts Besseres, als Betriebsrat zu sein. Da klopfen die Leute dir auf die Schulter“, so Dieckmann. Er erinnert sich schmerzlich an die beinahe jährlichen Treffen, bei denen die nächste Entlassungsliste erstellt wurde. „Das war kein Zuckerschlecken, wirklich furchtbar.“ Der Betriebsrat habe immer versucht, möglichst vielen Leuten den Arbeitsplatz zu bewahren. „Man fragt sich ja nicht: Wie viel Milch verschüttet wurde, sondern wie viel noch in der Kanne ist.“