Ruhrgebiet. Zur Geschichte des Ruhrgebiets gehört die Bekleidungsindustrie mit großen weiblichen Belegschaften. Warum sind die Näherinnen komplett vergessen?
An diesem Vormittag gibt Dierk Hartmann in gewisser Weise sein letztes Hemd. Gestreifte Größe 39, originalverpackt in durchsichtiger Knisterplastik. „Das stammt aus den 60er-Jahren. Ich hab immer gedacht: Ein Hemd musst du doch behalten“, sagt Hartmann. Denn sein Vater war Geschäftsführer einer Textilfabrik in Recklinghausen. Und auf der Verpackung steht nun etwas sehr Ungewöhnliches für ein Hemd: „Leihgabe.“
Im Recklinghäuser „Institut für Stadtgeschichte“ hat eine kleinere, aber spannende Ausstellung geöffnet. Sie befasst sich mit einem Stück Industriegeschichte des Ruhrgebiets, das aus dem kollektiven Gedächtnis komplett verschwunden ist. Mit den „vergessenen Näherinnen des Ruhrpotts“, so die Zeitschrift „Emma“.
Schwerpunkte in Gelsenkirchen, Recklinghausen, Gladbeck, Wattenscheid
Mit der Bekleidungsindustrie, die einmal richtig groß war, überwiegend im nördlichen Ruhrgebiet, in Recklinghausen, Gelsenkirchen, Gladbeck, aber auch in Duisburg. Mit mittelständischen Firmen wie Povel, Turf, Laarmann, Seeler . . . Nie gehört? Steilmann in Wattenscheid? „Nur die“ aus Herne? „Condor-Blusen passen auf jeden Busen?“
Diese Bekleidungsindustrie führte neben der alles beherrschenden Montanindustrie eine „beachtliche Existenz am Rande“, so die glückhafte Formulierung in einer Doktorarbeit. Vor allem geflüchtete und vertriebene Unternehmer aus den Textilzentren im Ost bauten sie direkt nach dem 2. Weltkrieg auf. Und sie beschäftigte in ihrer besten Zeit in den 1950er- und 1960er-Jahren zehntausende Frauen im Revier. Die stehen in der Ausstellung im Mittelpunkt, in 15 ausgehängten Kurz-Biographien.
„Zuerst musste ich gerade Nähte nähen üben, dann Unterkragen . . .“
Herrenwäsche- und Kragennäherinnen, Wäscheplätterinnen und Abfädlerinnen, Musternäherinnen und (Fließ)Bandleiterinnen. „Zuerst musste ich gerade Nähte nähen üben, dann durfte ich Unterkragen nähen und Stäbchentaschen annähen . . . Kragen vornähen und an der Presse pressen“, heißt es etwa im Arbeitsheft von Christel Schlüter.
„Wir konnten selbst gar nichts beitragen“, sagt Matthias Kordes, der Leiter des Instituts für Stadtgeschichte. Die Bekleidungsindustrie sei „ein vernachlässigter Bereich in vielen Kommunalarchiven“. Stattdessen hat der „Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte“ die Ausstellungsstücke und letzten Zeitzeuginnen mit einem Aufruf aufgetrieben. „Was gibt es Spannenderes, als eine Forschungslücke zu entdecken?“, fragt die Vorsitzende Karin Derichs-Kunstmann, nicht ganz unerwartet eine Sozialwissenschaftlerin.
Eine Schürze und eine Schere sind mitzubringen
Ausgestellt haben sie neben den Biografien etwa Zeugnisse, Lehrverträge und Produkte. So schreibt die Firma Turf einer Bewerberin: „Wir bitten Sie, die Arbeit in unserem Werk Herten am 4. April 1966 um 8 Uhr anzutreten.“ Mitzubringen seien neben Zeugnissen und einer ärztlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung „eine Schürze und eine Schere“.
Interessant auch das Musterhemd der Firma Povel von 1952. Jedes einzelne Teil hat eine andere Farbe, um zu demonstrieren, wie komplex ein solches Hemd ist: Es sind 46 einzelne Teile. Darunter stehen auf einer Tafel zu damaligen Lehr-Zwecken die „48 Schritte zum Herrenhemd“: „Vorderteil säumen . . . Manschetten vornähen . . . Schlitzbesätze annähen . . . Rumpf bügeln . . .“
Nach acht Jahren Volksschule bot die Bekleidungsindustrie eine Ausbildung
In der Produktion verteilte sich das auf verschiedene Frauen, schließlich arbeiteten sie häufig im Akkord, am Fließband und im Zwei-Schicht-System. In der Prüfung allerdings mussten sie alle 48 Schritte in 90 Minuten allein gehen - der Zeitplan war ziemlich auf Kante genäht.
Für die Masse der Mädchen, die nach acht Jahren die Volksschule verließen, war diese Industrie eine der wenigen Möglichkeiten zu einer Ausbildung. Die hatte umgekehrt das Arbeitskräfte-Potenzial erkannt und den Lohn der Ausbildung: Da die Ehemänner in der Energieindustrie gut verdienten, gingen die Frauen auch nicht fort.
„Fertigkeiten, die eher das schwache Geschlecht auszeichnen“
1963 hat ein Kollege der Recklinghäuser Zeitung einen Streifzug durch eine der Fabriken gemacht. Überschrift: „Der moderne Beruf für Frauen - der auch in der Ehe nicht endet.“ Die Frauen-Belegschaften seien „eine Selbstverständlichkeit, wird man sagen und sich daran erinnern, dass einer Frau schneiden und nähen so gut wie angeboren sein muss“. Eine gestaltende Hand, Geschmack und Formgefühl seien „Fertigkeiten, die eher das ,schwache Geschlecht’ auszeichnen“.
Tanja Thomann war in den 1980er-Jahren die letzte Auszubildende bei Seeler (ja, einem Verwandten von Uwe Seeler). „Der Druck war natürlich sehr groß, der Preisdruck, die Schnelllebigkeit“ erinnert sie sich. Seeler ging 1987 in Konkurs, Tanja Thomann beendete ihre Ausbildung zur Industriekauffrau bei Turf und ging dann noch kurz zu einer Modefirma in Wanne-Eickel. „Die Verbindung des Kaufmännischen mit der Mode, die hat mich interessiert“, sagt sie. Sie entkam dann der sterbenden Industrie in Richtung Sparkasse.
Gelsenkirchen hieß einmal auch „Stadt der 7000 Nähmaschinen“
Denn schon seit den 60er-Jahren steckt die Branche in der Krise. Das Ausland näht billiger. Kurzarbeit. Entlassungen. Kämpfe wie in Stahl und Kohle um die Erhaltung von Werken und Zechen hat es nie gegeben. „Es war ein schleichender Abbau, und dann fiel es nicht mehr auf, wenn am Ende nur noch 50 Arbeitsplätze wegfielen“, sagt Karin Derichs-Kunstmann.
Und es waren ja auch in den damaligen Augen nur Frauen-Arbeitsplätze. Die Zeitschrift „Emma“ merkt zurecht an: „Bergmänner und Stahlarbeiter sind die muskulösen Helden der Region. Auch die Route der Industrie-Kultur huldigt an 52 Orten nur der Männer-Industrie.“ Dabei hieß Gelsenkirchen damals nicht nur, wie jeder weiß: die „Stadt der 1000 Feuer“. Sondern auch, wie niemand mehr weiß: die „Stadt der 7000 Nähmaschinen“.
>>>>Infos und Zeiten
„Von Schnittmustern, Nähmaschinen und Plätteisen - Frauen in der Bekleidungsindustrie in Recklinghausen.“ Noch bis 29. April im Institut für Stadtgeschichte, Hohenzollernstraße 12. Geöffnet mo, di, fr 8 bis 13 Uhr, mi bis 16 Uhr, do bis 18 Uhr. Katalog vermutlich von nächster Woche an.