Bochum. Statistisch betrachtet sind etwa 2800 Bochumerinnen und Bochumer glücksspielsüchtig. Vier bekämpfen ihren Dämon in einer ambulanten Therapie.

„Papa, wo gehst Du eigentlich jeden Dienstagabend hin?“ Peter (50; *) kann es dem kleinen Mädchen, seiner Tochter, nicht sagen. „Noch nicht“, sagt er. „Später einmal, wenn sie größer ist, werde ich es ihr erzählen.“ So wie einigen Freunden und Verwandten vielleicht auch. Peter ist spielsüchtig, aber abstinent. Und jeden Dienstag geht er zur Therapie.

Glücksspielsüchtige treffen sich in ehemaliger Kapelle

Zu Fünft sitzen sie in der ehemaligen Kapelle der LWL-Klinik Bochum an der Alexandrinenstraße. Fünf Männer, vier davon mit einer Vergangenheit als Spieler und mit dem festen Vorsatz, den Karten, den Automaten, den Wetten oder was auch immer sie zum Zocken verleitet hat, für immer abzuschwören. Der fünfte Mann ist Dr. Dae-In Chang (46), Oberarzt in der Abteilung für Suchtmedizin am LWL-Universitätsklinikum Bochum. Er leitet eine Spezialsprechstunde für Glücksspielsüchtige.

Die vier, die hier in dem kleinen Stuhlkreis sitzen, der in dem großen Raum mit den schönen Kirchenfenstern ein wenig verloren wirkt, sind längst nicht die einzigen, die sich in den vergangenen Monaten offenbart und die versucht haben, in einer Therapie von ihrer Sucht loszukommen. Etliche sind dagewesen, viele sind nach ein, zwei Sitzungen nicht wiederkommen.

Auch interessant

Nur wer selbst überzeugt ist, kann den Dämon besiegen

Wer seinen Dämon erfolgreich bekämpfen will, das erfahre ich an diesem Dienstagabend, der muss standhaft sein. Und er muss aus eigener Überzeugung aussteigen wollen. „Wenn die Selbsteinsicht nicht da ist, kann man erzählen was man will“, sagt Peter aus eigener Erfahrung. Das führe zu gar nichts. Und: Der Punkt, bei dem es Klick mache, sei bei jedem anders. Alex (40) sagt: „Spätestens dann, wenn die Insolvenz droht, sollte man sich Hilfe suchen.“

Sich treffen und reden sind ein wichtiger Bestandteil der Therapie. Die Teilnehmer bekommen bisweilen auch Aufgaben, die sie bis zur nächsten Sitzung erledigen sollen.
Sich treffen und reden sind ein wichtiger Bestandteil der Therapie. Die Teilnehmer bekommen bisweilen auch Aufgaben, die sie bis zur nächsten Sitzung erledigen sollen. © FUNKE Foto Services | Dietmar Wäsche

So weit ist es nicht bei jedem in der Gruppe gekommen. Die meisten aber kennen den Teufelskreis: Alles Geld ist verzockt, die Miete und andere Verpflichtungen aber noch nicht bezahlt, die unbezahlten Rechnungen türmen sich, die Ehe kriselt oder ist schon in die Brüche gegangen, der Job ist futsch. „Und immer dreht sich alles um die gleiche Frage: Wie komme ich an Geld fürs Spielen“, sagt Jonas (28). „Du gehst mit diesem Gedanken schlafen und du wachst damit auf.“ Vieles andere tritt völlig in den Hintergrund: die täglichen Pflichten; im Job, im Haushalt. „Selbst mit der Körperpflege nimmt man es nicht mehr so ernst“, so Jonas, der mehr als zehn Jahre lang gespielt hat.

Auch interessant

25.000 Euro Schulden und eine kriminelle Vergangenheit

Sein Absturz war besonders schlimm. „Mit 23 habe ich allein gewohnt, hatte kein Geld mehr, habe die Miete nicht bezahlt, bin kriminell geworden mit Betrugsfällen übers Internet.“ Fast 25.000 Euro Schulden hat er in dieser Zeit aufgetürmt. Die Situation schier ausweglos.

Bis er sich entschieden hat, vom Spielen loszukommen. Er hat mit der Therapie begonnen, ist zur Schuldnerberatung gegangen und hat vor einigen Tagen „sein Urteil bekommen“, wie er sagt. Er sei noch einmal mit einem blauen Auge davon gekommen. Zur Bewährung ausgesetzt ist seine Strafe; vermutlich auch, weil er sich nun einer Therapie unterzieht und dabei gute Fortschritte macht. „Ich bin wirklich froh hier zu sein“, sagt er. Einige Monate vorher war daran nicht zu denken. Er hat auf alles und jedes gesetzt. „Am Ende habe ich bis zur Zweiten Russischen Tischtennis-Liga getippt, obwohl ich gar keine Ahnung davon hatte. Aber Hauptsache Zocken.“

Auch interessant

Viele zocken seit vielen Jahren

Bei vielen währt die Zockerkarriere schon lange. „Ich habe 20 Jahre lang gespielt, seit ich mein erstes Geld verdient habe“, berichtet Sven (42). „Das war eine schlimme Zeit und ich bin froh, dass ich den Weg raus gefunden habe. Ich bin jetzt seit über einem halben Jahr spielfrei. Das ist wie eine Lebensveränderung.“ Er kümmere sich jetzt um seinen Sohn. „Das ist eigentlich selbstverständlich, aber früher mit der Spielerei war das unmöglich.“ Es gebe ihm Kraft. Urlaub mit seinem Sohn zu machen, das wäre toll. „Ich hoffe es klappt in diesem Jahr.“ Ein ganz normales Leben führen, darum geht es.

Das meiste Geld landet in Spielautomaten

Etwa 200.000 Frauen und Männer in Deutschland gelten als pathologische Spielerinnen und Spieler (Stand 2021), so die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen in Hamm. Knapp 230.000 Personen zwischen 16 und 70 Jahren haben ein problematisches Spielverhalten, wie aus einer Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hervorgeht.

Allein 2019 wurde in Deutschland auf dem Glücksspielmarkt (ohne Soziallotterien) ein Umsatz von 44,2 Milliarden Euro erzielt. Der größte Anteil entfiel dabei auf Geldspielautomaten (25,7 Milliarden Euro), gefolgt von Spielbanken (9,6 Milliarden Euro) und Lotto-Toto-Spielen (7,3).

Wer Interesse an einer Beratung und/oder Therapie hat, kann sich an die Spezialsprechstunde Glücksspielsucht der LWL-Klinik wenden: 0234/ 50 77 11 90.

Acht Jahre lang hat Alex gespielt. Angefangen habe es mit Kollegen, für kleines Geld. „Und dann wurde es immer mehr. Ich habe mir Geld geliehen, erste Schulden gemacht und Kredite aufgenommen bis zum Gehtnichtmehr.“ Acht Kredite bei acht unterschiedlichen Banken waren es am Ende. Seit vier Monaten ist er jetzt spielfrei, lebt finanziell „so am Limit“ wie er sagt, hat eine Frau kennengelernt und schöpft neuen Mut. „Irgendwie wird das schon“, sagt er. Er wohnt jetzt bei seiner Freundin, tritt bald einen neuen Job an und will endlich abschließen mit dem Glücksspiel.

Auch interessant

Wer erfolgreich sein will, muss die Leere füllen

Bei Peter war es anders. Lange hat der Familienvater einfach nur Onlinepoker gespielt, „in gemäßigter Form“, wie er sagt. Hat seine Arbeit ordentlich erledigt, hat eine Familie, ein Haus. Und ist dann – beinahe Knall auf Fall – dem Spiel verfallen. „Ich hatte kurze Spielexzesse, bei denen es finanziell total außer Kontrolle geraten ist“, berichtet er. „Nach dem zweiten Mal habe ich gemerkt, dass ich nicht in der Lage bin, da selbstständig rauszukommen.“ Monate später sieht das ganz anders aus. „Ich habe wieder ein ganz erfrischendes Verhältnis zu meiner Frau, die mehr gelitten hat als ich, weil sie dachte, ich verzocke unser ganzes Haus.“ Das aber, davon ist Peter überzeugt, wird nicht passieren. „Es ist wie beim Nicht-mehr-Rauchen. Je länger es zurückliegt, desto höher ist die Brandmauer.“

Eine Erfolgsquote zu nennen, sei schwer, sagt Dr. Dae-In Chang, der die ambulante Therapiegruppe leitet. Aber bei jedem, der sich motiviere, regelmäßig zu den Therapiestunden zu kommen, sei die Chance sehr groß, seine Spielsucht in den Griff zu bekommen. Los wird er sie nie, das ist wie bei Alkohol, Drogen und anderen Süchten. Es geht um die Abstinenz. Und die wird u.a. erreicht, wenn es gelingt, die Leere, die durch das „nicht mehr Spielen“ entsteht, neu zu füllen – mit Highlights, aber auch mit alltäglichen Dingen. Mit Leben.

Auch interessant

Vermutlich knapp 2800 Erwachsene in Bochum haben ein Spielproblem

Dass nur Männer zur aktuellen Gruppe gehören, ist nicht Ungewöhnlich. Denn: „Deutlich mehr Männer als Frauen sind spielsüchtig“, so Dr. Chang. Nach Einschätzung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind 0,8 Prozent der Erwachsenen in Deutschland problematische oder pathologische Spieler, drei Viertel davon seien Männer. Umgerechnet auf Bochum, gäbe es demnach in der Stadt knapp 2000 Männer und etwa 670 Frauen mit einem „Spielproblem“.

Vier von ihnen, ich habe sie an diesem Dienstag kennengelernt, haben sich dazu aufgerafft, der Sucht entgegenzutreten. Und damit beginne plötzlich wieder ein ganz neues Leben, sagen sie.

Nächstes Woche treffen sie sich wieder. Und wenn es so gut gelaufen ist wie in den vergangenen Monaten, berichtet jeder: „Die Woche war spielfrei.“ Der nächste Etappensieg.

* Die Namen aller Therapieteilnehmer sind geändert