Bochum. Wie Bochums Corona-Politik in Zeiten vieler Lockerungen aussehen soll, erklärt Oberbürgermeister Thomas Eiskirch im WAZ-Interview.
Die Lage im Schlachthof, viele Todesfälle in Folge von Corona-Infektionen in Bochumer Altenheimen und eine umstrittene Marketingkampagne der Stadt – Oberbürgermeister Thomas Eiskirch erklärt im WAZ-Interview mit Verena Lörsch seine Corona-Politik und warnt ältere Bochumer vor einer „neuen Sorglosigkeit“ dieser Tage.
Fitnessstudios, Gastronomie, Handel – wie will die Stadt angesichts der zahlreichen Lockerungen ausreichende Kontrollen durchführen?
Das Land NRW hat sich entschieden, dass die Unternehmen uns keine Hygienekonzepte zur Genehmigung vorlegen müssen, sondern in Eigenverantwortung handeln und wir das stichprobenartig kontrollieren. Dafür haben wir 104 Ordnungskräfte, die auf der Straße diese Kontrollen vornehmen. Nein, man kann definitiv nicht davon ausgehen, dass jetzt, wo fast alles wieder offen ist, auch nur annähernd eine flächendeckende Kontrolle möglich ist.
Im Schlachthof Bochum wurden die ersten Corona-Fälle bereits Ende April festgestellt, mittlerweile sind 30 Mitarbeiter positiv getestet worden. Warum werden solche Vorkommnisse nicht von Seiten der Stadt sofort kommuniziert?
Die Menschen, die dort positiv getestet worden sind, waren fast ausschließlich in den Nachbargemeinden im Kreis Recklinghausen und in Herne ansässig. Es obliegt der Kommune, in der die Infektionsfälle in die Statistik eingehen, das zu vermelden. Die Corona-infizierten Mitarbeiter sind zu einem verschwindend geringen Teil Bochumer.
Der Arbeitsort befindet sich aber auf Bochumer Gebiet und es ist angesichts der gehäuften Infektionszahlen in dem Betrieb wahrscheinlich, dass sie sich dort infiziert haben.
Es ist hypothetisch, wo sie sich angesteckt haben. Die Bochumer haben nicht in Sammelunterkünften gelebt. Die infektiologischen Folgen durch die Beschäftigten in den Schlachthöfen entstehen da, wo die Leute die entsprechenden Außenkontakte haben: Da, wo sie wohnen und wo es über fest eingegrenzte Kontakte hinausgeht.
Menschen, die an den Folgen des Coronavirus sterben, sind bundesweit zu einem Drittel Bewohner von Altenheimen. Warum macht das in Bochum rund die Hälfte der Todesfälle aus?
Das liegt an einem Hotspot: Das ist ohne jede Frage das Heinrich-König-Zentrum gewesen. Wenn es in einer Kommune einen solchen Ort gibt, wo sich Fälle häufen, dann schlägt sich das in der Statistik auch nieder. Man muss vor allem die Gefährdungssituationen beobachten. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mich mit einem Brief an alle über 70-Jährigen gewandt habe – das sind fast 60.000 Bochumerinnen und Bochumer. 87 Prozent der Todesfälle betreffen Menschen über 70 Jahren. Was ich seit den Lockerungen mitbekomme, ist eine neue Sorglosigkeit quer durch die Gesellschaft. Die beunruhigt mich durchaus. In dem Brief sensibilisiere ich lebensältere Menschen noch einmal, weil sie, wenn Sie sich anstecken, statistisch gesehen mit schweren Folgen rechnen müssen und deshalb mit den Lockerungen noch sorgsamer umgehen sollten.
Wie wirken sich Nachrichten wie die Zahl der Toten in Bochumer Altenheimen auf Sie selbst und auf Ihre Amtsführung aus?
Das steckt man als Oberbürgermeister nicht so leicht weg, wenn sich in der Heimatstadt die Todesfälle in Altenheimen häufen. Das nimmt einen natürlich mit und trotzdem muss man einen kühlen Kopf bewahren, um mit der Situation angemessen umzugehen. Verantwortung spürt man in solchen Situationen nochmal besonders. Corona wird kein Oberbürgermeister jemals vergessen. Ich bin sehr froh, dass ich in dieser Zeit auf eine Struktur zurückgreifen kann, die wir vor zwei Jahren implementiert haben: das kommunale Krisenmanagement.
Mit einem Zehn-Punkte-Programm will die Stadt die lokale Gastronomie und Handel fördern und investiert gemeinsam mit anderen mehr als 2,2 Millionen Euro. Inwiefern profitiert auch der Handel und die Gastronomie in den Stadtteilen von dem Förderprogramm?
Sieben von zehn Maßnahmen gelten für ganz Bochum. Die Möglichkeit des kostenlosen Parkens ist beispielsweise auch im Wattenscheider Parkhaus möglich. Innenstadt-orientiert sind nur die Open-Air-Gallery, die Fahrrad-Waschanlage und die temporären Spielplätze.
Autofahrer können im Mai und Juni drei Stunden täglich kostenlos parken. Für Radfahrer wird derweil die Waschanlage aufgestellt. Sind Sie der Ansicht, dass aufgrund dieser Waschanlage die Bochumer eher das Auto stehen lassen?
Ich glaube, die Fahrradwaschanlage ist eines der coolsten Produkte in diesem Zehn-Punkte-Plan. Wir haben überlegt, was man tun kann – weil Fahrradfahren ja schon kostenlos ist. Ich denke, es gibt eine Menge Leute, die sagen: „Ich will selbst mal ausprobieren, wie die Waschanlage funktioniert. Lass uns mal mit dem Fahrrad in die Innenstadt fahren und da einkaufen.“ Wer sich das anschaut, das ist schon ungewöhnlich und spannend.
Andere Städte wie Brüssel nutzen die Coronakrise, um das Verkehrskonzept in den Innenstädten stärker auf Fußgänger, dann Radfahrer, den ÖPNV und zuletzt auf Autofahrer auszurichten. Warum geht Bochum nicht diesen Weg? Die Initiative Radwende fordert beispielsweise, eine Spur auf dem Innenstadt-Ring Radfahrern freizugeben.
Wir haben uns das ganz gründlich angeguckt, weil ich Pop-up-Radwege oder Umweltspur eine spannende Idee finde. In Städten wie Berlin oder Brüssel sind an bestimmten Stellen immer Dauerstaus. Durch eine Sonderspur kann ich da eine Priorisierung schaffen. Diese Situation habe ich in Bochum aber nur auf Straßen, die nicht vierspurig sind. Wir sind zur Erkenntnis gekommen, dass das für Bochum, nicht das richtige Mittel ist. Das Ziel, im Innenstadtverkehr deutlich mehr aufs Fahrrad zu setzen, bleibt. Bis 2025 wollen wir sukzessive alle Einfallstraßen in die Innenstadt und den Innenstadtring fahrradtauglich machen. Das Gutachten dazu liegt noch in diesem Jahr vor.
Zu diesem Programm soll auch eine aufwändige Marketingmaßnahme mit Ihnen auf den Plakaten geben. Ist das in einem Wahljahr nicht verzichtbar?
Wir haben das über die politischen Parteigrenzen hinweg gemeinsam entschieden. Die öffentliche Hand wird vom Oberbürgermeister repräsentiert. Das Gesicht für den öffentlichen Teil einer Stadt ist der Oberbürgermeister. Uns ist aber klar, dass das in einem Wahljahr sensibler zu handhaben ist. Bis zu den Sommerferien werde ich sichtbarer Teil der Kampagne sein, danach nicht mehr.
Die Linke wirft Ihnen vor, das Maßnahmenpaket sei ohne politische Debatte verabschiedet worden. Keine Arbeitnehmervertreter und Gewerkschaften seien konsultiert worden.
Die Linken bewegen sich seit Wochen im politischen Kleinklein, um von inneren Diskrepanzen abzulenken. Alle anderen Parteien in Bochum tragen mit einem großen Schulterschluss die Verantwortung in dieser schwierigen Situation und ziehen an einem Strang. Ich führe seit Wochen regelmäßig Gespräche in den unterschiedlichsten Konstellationen. Hier ging es um Handel und Gastronomie und da haben wir mit den Protagonisten aus dem Bereich gesprochen. Es gibt andere Themen, die man in anderer Zusammensetzung diskutiert.
Aktuelle Entwicklungen zur Coronakrise gibt es Bochumer Newsblog.
Eine Echtzeit-Karte zu Corona-Infektionen in NRW gibt es hier.