Gelsenkirchen. Selbstüberschätzung, Übermut, Waghalsigkeit: Im Erfolg wurden beim FC Schalke 04 Fehler gemacht, die jetzt teuer bezahlt werden. Eine Analyse.

Anhänger des FC Schalke 04 müssen derzeit einiges ertragen. Schlimm genug, dass sie ihrer desolaten Mannschaft nicht im Stadion Beine machen können – jetzt werden sie auch noch verspottet. Im Netz kursiert gerade dies: „Nachfolgenden Generationen wird man die Dimension der Corona-Pandemie mit ,sie verlief zwischen zwei Schalker Siegen‘ nur unzureichend vermitteln können.“ Aber solcher Hohn hat einen realistischen Hintergrund: Saisonübergreifend 26 Spiele nacheinander ohne Sieg, Abstiegsangst schon nach wenigen Spieltagen – das muss man erst mal hinbekommen.

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Zur Winterpause vor einem Jahr standen die Königsblauen noch aussichtsreich auf Platz fünf. Zum Rückrundenstart gelang ihnen noch genau ein Sieg. Der folgende Absturz ist beispiellos. Aber er hat Gründe, und die wurzeln in jahrelanger Selbstüberschätzung. Nach dem Motto: Immer schön auf dem roten Teppich bleiben.

Einer der ehemaligen Schalker Sportdirektoren berichtete von einem Auftrag, den er nicht als Empfehlung empfunden hatte, sondern als klare Vorgabe. „Spare mir nicht unseren Verein kaputt!“, sei ihm gesagt worden, als er eingenommenes Geld nicht sofort wieder auf den Markt der Möglichkeiten werfen wollte. Es war kein Geheimnis, wer diese Richtung auf Schalke bestimmte: Clemens Tönnies, bis zu seinem Rücktritt im Sommer 19 Jahre lang Aufsichtsratsvorsitzender, konnte sich ja durchaus in seinem auf Waghalsigkeit bestehenden Prinzip des Wirtschaftens bestätigt sehen.

Clemens Tönnies hat Schalke geliebt

Schalke 04 tanzte ausdauernd auf den großen europäischen Fußballbühnen, und dies verleitete zu Mut und Übermut. Warum nicht auch mal wie Borussia Dortmund im Champions-League-Finale stehen? Warum nicht endlich mal Deutscher Meister werden? Wir sind doch schließlich der FC Schalke – mit all seiner Tradition, seiner Fan-Wucht, seiner Strahlkraft. So haben viele gedacht, nicht nur der Patron. Ihm die Alleinschuld für die Misere anzudichten, ließe einige ehemalige und derzeitige Funktionsträger etwas zu gut wegkommen.

Haben Schalke 04 verlassen: Clemens Tönnies (l.) und Peter Peters (r.).
Haben Schalke 04 verlassen: Clemens Tönnies (l.) und Peter Peters (r.). © imago

Clemens Tönnies hat viele Fehler gemacht, ohne Frage. Aber: Es ging dem Fleischgroßhändler tatsächlich immer um Schalke, er hat den Verein geliebt. Und mit dieser Liebe fast erdrückt.

Im Aufsichtsrat flogen zwar manches Mal die Fetzen – am Ende aber siegte stets die Hausmacht um Tönnies. Auch die Vorstände gingen seinen Weg meistens überzeugt mit – erst in der jüngeren Vergangenheit hatte der ebenfalls im Sommer zurückgetretene langjährige Finanzchef Peter Peters einen anderen Kurs eingeschlagen. In ihrer gemeinsamen Zeit hieß es häufig, wenn die Arena erst einmal abbezahlt sei, begänne für Schalke ein neues Zeitalter, gemeint war ein goldenes. 2019 war das größte Investment in der Geschichte des Vereins abgeschlossen. Doch ein Jahr später belasten ihn Verbindlichkeiten in Höhe von rund 240 Millionen Euro.

Schalke-Krise: Corona war der Beschleuniger

Im Falle eines Abstiegs, verbunden mit weniger Fernsehgeldern, müsste Schalke möglicherweise sogar um die Lizenz für die Zweite Liga bangen. Schon früh nach Ausbruch der Corona-Pandemie hatte der Verein Existenzängste zugegeben – ohne die Genehmigung für Geisterspiele hätten die Lichter auf Schalke bereits aus sein können.

Die handelnden Personen auf Schalke: Vorstand Alexander Jobst und Sportchef Jochen Schneider.
Die handelnden Personen auf Schalke: Vorstand Alexander Jobst und Sportchef Jochen Schneider. © firo

Corona war nicht die Ursache des Schalker Niedergangs, allerdings ein Beschleuniger, sportlich wie finanziell. Die verbliebenen Vorstände, Marketingchef Alexander Jobst und Sportchef Jochen Schneider, versprachen eine neue Vereinspolitik, geprägt von Sparzwang und Augenmaß. „Die Wette auf die Zukunft haben wir verloren“, gestand Jobst. Auch mehr Transparenz wurde versprochen. Die erwarten Fans und Mitglieder vor allem in der heiklen Frage der vom Vorstand geplanten Ausgliederung der Profiabteilung aus dem eingetragenen Verein. Schalke würde sich damit für Investoren öffnen, doch viele Traditionalisten befürchten damit einen ungesunden Einfluss von außen. Und es fehlt ihnen das Vertrauen darauf, dass mit den frischen Millionen umsichtig umgegangen würde.

Die Sorge ist nicht unbegründet. In den vergangenen Jahren wurde der Verlust zahlreicher Top-Spieler nicht aufgefangen. Entweder wurden Ablösesummen unklug für Neueinkäufe verwendet – oder die Profis konnten sogar ablösefrei wechseln. Manuel Neuer, Julian Draxler, Leroy Sané, Sead Kolasinac, Thilo Kehrer, Leon Goretzka – lauter Hochkaräter, deren Verkauf bei einer klügeren Vereinspolitik den Bestand des Klubs über viele Jahre hätte sichern müssen.

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Schalke 04: Teures Aufgebot ohne Qualität

Stattdessen leistete sich der Verein ein überteuertes Aufgebot, das den Ansprüchen nicht genügte. Als er in diesem Jahr zum zweiten Mal nacheinander den internationalen Wettbewerb verpasste und zeitgleich Corona zuschlug, ging es bergab.

Schalke 04 – das war noch vor acht Jahren ein Verein, für den der Weltstar Raúl spielte. Den Rausch der guten Zeit bezahlt der Klub heute mit einem heftigen Kater, gegen den allerdings kein Hausmittel hilft. Kurzfristige Verstärkungen im Winter könnten helfen. Aber in der Hölle hätten auch alle gerne Eiswasser.