Essen/Sapporo. Der Wattenscheider Marathonläufer Hendrik Pfeiffer trainierte mit einer Gruppe in Afrika. Bei Olympia endet für ihn eine lange Leidenszeit.
Hendrik Pfeiffer hat es geschafft: Nach einer Leidenszeit, die kurz vor dem Abflug zu den Olympischen Spielen 2016 begann und mit einer Corona-Infektion in diesem Jahr endete, ist der Läufer zusammen mit seinem Wattenscheider Teamkollegen Amanal Petros (26) bei Olympia in Japan angekommen. Nicht in Tokio, sondern in Sapporo tritt der 28-Jährige in der Nacht von Samstag auf Sonntag um Mitternacht deutscher Zeit im Marathon an.
Herr Pfeiffer, gelandet in Tokio, vorbereitet in Shibetsu – am Samstag Mitternacht deutscher Zeit dann der Start im Marathon. Ihr Olympia in Tokio findet in Sapporo statt. Finden Sie es schade, nicht in der Hauptstadt zu sein?
Hendrik Pfeiffer: Eigentlich nicht. Wenn ich so mitbekomme, wie es im Olympischen Dorf abläuft, verpassen wir dort nichts. Vielleicht ist es besser, wenn man nicht mitten im Hotspot ist. Im Grunde ist es ja auch egal, ob ich in Tokio oder in Sapporo die Hotelwand anstarre.
Olympia-Stimmung fällt Ihnen also schwer?
Pfeiffer: Ich glaube schon, dass die Maßnahmen wie ein Schatten über allem liegen. Aber ich sage immer: Der Kern von Olympia ist der Wettkampf. Mann gegen Mann, ein tolles Feld, ein tolles Rennen. Darauf besinne und freue ich mich.
Wie gelingt Ihnen das?
Pfeiffer: Es ist sehr schade, dass das Drumherum von Olympia zu 100 pro wegbricht. Aber der Wettkampf und der Stellenwert des Olympischen Wettkampfes bleiben gleich. Deswegen ist die Vorfreude schon sehr groß. Man hat sein Leben diesem Sport, dem Traum von Olympia gewidmet. Aber man hat ein weinendes Auge: Wenn am Ende so eine Olympia-Version übrig bleibt, dann ist es natürlich traurig.
Zumal Ihr Weg nach Tokio eine kaum vorstellbare Leidensgeschichte war. 2016 verletzten Sie sich kurz vor dem Beginn der Spiele so schwer, dass Sie nicht antreten konnten. Dabei hatten Sie sogar schon die komplette Einkleidung bekommen…
Pfeiffer: Ja. Ich habe den Koffer mit den ganzen Sachen noch zu Hause stehen. Es ist wahrscheinlich die einzige Olympia-Kollektion, die noch original verpackt ist. Vielleicht hat Sie irgendwann mal einen Sammlerwert…
Sie konnten sie bis heute nicht auspacken?
Pfeiffer: Nein. Damals musste ich an der Ferse operiert werden, mich in der Reha zurückkämpfen. Und da ging das Ganze Verletzungspech ja erst los – erst viel später haben wir die Ursache gefunden. Das war also nicht mein einziger Rückschlag.
2018 verpassten Sie die Europameisterschaft in Berlin.
Pfeiffer: Die EM war mir ähnlich wichtig wie Olympia, weil sie im eigenen Land war. Es war die gleiche Geschichte, die sich wiederholte: Ich war qualifiziert, nominiert und wieder auf den letzten Drücker raus.
Und dann kam 2020, das Corona-Jahr.
Pfeiffer: Auch das war bitter: Ich war für die EM qualifiziert, diese wurde wegen der Pandemie ersatzlos gestrichen. Was mit Olympia passiert, war ja auch lange offen. Es war schon eine Odyssee die letzten Jahre. Deswegen hat es für mich eine besondere Bedeutung, dass sich dieser Kreis aus Rückschlägen endlich schließt. Ich habe oft genug gezeigt, dass ich es kann und dass ich nicht an der Leistung, sondern an Verletzungen gescheitert bin.
Klingt als sei die Teilnahme in diesem Jahr eine große Genugtuung für Sie.
Pfeiffer: Absolut. Das Schöne ist, dass ich kaum Druck verspüre. Das große Ziel habe ich erreicht: hierhin zu kommen. Jeder, den ich am Samstag schlage, ist ein Gewinn für mich. Das Niveau in dem Feld ist sehr hoch. Eine gute Tagesform wird da 30, 40 Plätze ausmachen können.
Man mag es kaum glauben: Doch auch in diesem Jahr erlebten Sie einen schweren Rückschlag: Sie infizierten sich mit Corona.
Pfeiffer: Ja, das war eine fiese Phase. Weil ich einerseits nicht wusste, wie schlimm es mich trifft, ob es dann überhaupt noch einmal weitergeht. Gleichzeitig hatte ich dann auch extremen Druck, weil sich sämtliche Konkurrenten noch einmal an meiner Zeit versucht haben und in der komfortablen Situation waren, sich an dem zu orientieren, was ich vorgelegt hatte. Da musste ich mir schon ein paar Monate lang die Fingernägel abknabbern. Zumal der Verlauf bei mir auch nicht gerade mild war.
Inwiefern?
Pfeiffer: Die Lunge war zum Glück nicht das Problem. Aber ich hatte einen viel zu hohen Puls, dazu extreme Müdigkeit, als wäre man paralysiert. Es hat fünf Wochen gedauert, bis ich wieder vernünftig trainieren konnte und auch nach zwei Monaten hat es mich noch beschäftigt.
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Ging Ihnen dann und wann der Gedanke durch den Kopf, dass es vielleicht wieder nicht reichen könnte?
Pfeiffer: Der Gedanke hat mich schon begleitet. Es hat mich noch mitten im Qualifikationszeitraum erwischt. Das war ein enormer Druck. Ich wusste bis zum letzten Tag nicht, ob nicht noch einer kommt und meine Zeit knackt. Das war belastend. Genauso wie die Ungewissheit, ob ich noch eine Herzmuskelentzündung bekomme. Erst als das medizinisch ausgeschlossen wurde, ging es besser. Aber vorher hatte ich richtig Angst.
Wissen Sie wo Sie sich angesteckt haben?
Pfeiffer: Es ist nur Spekulation, aber wahrscheinlich am Flughafen in Kenia. Da gab es eine Situation, die schlecht organisiert war. Auf einmal stand man mit 100 Leuten dicht gedrängt und man konnte auch keine Abstände mehr halten. Symptome und Gewissheit, dass es Corona ist, bekam ich aber erst einige Tage später.
In Japan sind die Kontrollen nun sehr streng. Gibt Ihnen das ein gutes Gefühl?
Pfeiffer: Nein, ganz im Gegenteil. Die vielen Auflagen sind schon ein bisschen zu viel des Guten. Klar, muss man vorsichtig sein, aber ich hätte mir schon ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl gewünscht. Gerade vor dem Hintergrund der Bilder, die bei der Fußball-EM produziert wurden, stehen die Abläufe dort in einem krassen Kontrast. Das ist ja beinahe ein Sicherheitswahn.
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Das halten Sie für übertrieben?
Pfeiffer: Ich empfinde das als einen Kompromiss der Organisatoren mit der Bevölkerung in Japan, die sehr skeptisch ist. Aber man hätte im Sinne der Athleten vielleicht ein bisschen mehr positive Gefühle zulassen können. Denn im Grunde ist alles, was ein bisschen Spaß macht, verboten. Ich glaube, die meisten Athleten haben genug Eigenverantwortung. Die Berichte aus den Quarantäne-Hotels sind ja schockierend genug…
Sie hätten sich also etwas mehr Vertrauen gewünscht?
Pfeiffer: Etwas mehr Lockerheit wäre schön gewesen. Aber unterm Strich überwiegt bei mir die Dankbarkeit, dass Olympia stattfindet und nicht abgesagt wurde. Das wäre die wirkliche Katastrophe gewesen, deswegen nehme ich das alles in Kauf und füge mich natürlich auch.
Sie haben für diese Chance alles gegeben. In der Einsamkeit von Kenia haben sie viel Zeit im Höhentrainingslager verbracht.
Pfeiffer: Ja, ich war in diesem Jahr fast vier Monate dort. Spaß ist das nicht. Das ist harte Arbeit. Aber wenn man nicht viel investiert, kommt nicht viel dabei rum. Es ist Olympia – wer weiß, ob man nochmal die Chance dazu hat.
Als die Corona-Krise Anfang 2020 ausbrach saßen Sie in Kenia fest. Die Lage wurde unübersichtlich. Sie wollten nur noch nach Hause. Tragen Sie diese Erinnerungen noch mit sich?
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Pfeiffer: Überhaupt nicht. Ich habe jetzt ein ganz anderes Verhältnis zu Kenia aufgebaut. Im letzten Jahr kannte ich die lokale Trainingsgruppe noch nicht. Jetzt bin gut vernetzt, habe viele Kontakte. Mit den Freunden, die ich heute dort habe, hätte ich auch die Situation 2020 besser ausgehalten.
Wer ist Teil dieser Trainingsgruppe?
Pfeiffer: Es sind alles Läufer aus Kenia, viele ziehen aus dem Umland dort hin, um ihren Traum zu leben. Es geht ihnen nicht nur ums Ideelle, sondern auch ums Materielle. Es ist für sie ein Weg raus aus der Armut.
Welches Niveau haben sie?
Pfeiffer: Das sind alles Profis, die nur für den Sport leben – aber unter Bedingungen, bei denen sich jedem Europäer die Nackenhaare aufstellen würden. Sie wohnen in Wellblechhütten, schlafen zu viert in einem Bett. Trotz der ärmlichen Bedingungen haben sie einen professionellen Lebensstil, bei dem es darum geht, morgens und abends zu trainieren und sich dazwischen zu erholen. Genauso wie wir. Das sind Vollprofis, hunderte, deren Anspruch es ist, Weltklasse zu werden.
Sind auch Läufer der kenianischen Olympia-Mannschaft dabei?
Pfeiffer: Nein. Das in Kenia zu werden, ist für sie fast unmöglich. Aber für 80 Prozent aller anderen Länder würden sie zum Olympia-Team gehören. Es ist eine Gruppe von rund 20 Leuten, bei denen ich ab und an in den Top fünf war und sonst eher zum vorderen Mittelfeld gehörte. International sind sie aber völlig unbekannt – sie sind noch nie außerhalb Kenias gestartet.
Das birgt aber großes Frustpotenzial.
Pfeiffer: Ja, schon. Aber es ist deren Traum. Sie versuchen, es zu schaffen. Durch Corona hat sich die Armut noch verschlimmert, weil es keine Startmöglichkeiten mehr gibt. Und ohne funktioniert das System nicht. Wenn es mal einer von ihnen zu einem Start nach Europa schafft, teilen sie das Geld unter sich auf. Aber momentan bricht diese Gelegenheit weg. Sie haben es im Moment besonders schwer.
Das klingt nach dem Zusammenprall zweier Welten in einer Trainingsgruppe: Wie ist das Miteinander?
Pfeiffer: Man merkt, dass sie darunter leiden. Aber sie haben generell sehr wenig. Wir helfen ihnen, wo wir können. Wir reisen immer mit vollen Koffern mit Sachen für sie an, kaufen für sie ein. Es ist ein tolles Miteinander, die Gruppe ist zusammengewachsen. Wir unterstützen uns im Training alle gegenseitig. Zuletzt haben sich uns noch fünf weitere Olympiastarter für einen Lauf angeschlossen. Das ist eine Gruppe, die man in Deutschland niemals so hinbekommt.
Teil Ihrer Gruppe ist auch Ihr Trainingspartner Amanal Petros, mit dem Sie zusammen nach Japan gereist sind. Sie haben in diesem Jahr viel Zeit miteinander verbracht: Verstehen Sie sich noch?
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Pfeiffer: Ja, nachwievor verstehen wir uns gut. Klar, man muss immer ein bisschen gucken, was man nach dem Training noch zusammen unternimmt. Ich habe zum Beispiel auch die leichten Läufe oft allein gemacht, aber durch die harten Tempoläufe haben wir uns gemeinsam gequält. Wenn man da oben ist, ist man froh, Leute um sich zu haben.
Wie ist ihr sportliches Verhältnis?
Pfeiffer: Als Konkurrenten sehe ich ihn nicht groß. Wir sind zusammen in Japan – und am Ende hat man im Rennen dann noch 104 andere Gegner aus anderen Ländern. Im Wettkampf macht jeder sein Ding. Da wird es keine Teamtaktik geben, weil wir als Läufer auch zu unterschiedlich sind. Aber im Training ist es schon toll, jemanden zu haben, an dem man sich hochhalten kann. Er ist deutscher Rekordhalter – da kann ich mich sogar noch etwas mehr an ihm orientieren als andersrum.
Sie hatten beide keine leichte Zeit: Sie mit ihren vielen Verletzungen. Er durch die Sorge um seine Familie, die wegen des Kriegs in Tigray auf der Flucht ist. Helfen Sie sich auch mental?
Pfeiffer: Man redet da schon drüber, klar. Wir versuchen immer, uns mit Zielen zu motivieren. Aktuell ist das Ziel sehr klar. Aber generell gehören wird beide im mentalen Bereich auch eher zu den Stärkeren.
Sie beide vertreten bei den Spielen den TV Wattenscheid – was bedeutet Ihnen der Verein?
Pfeiffer: Wir identifizieren uns komplett damit. Gerade im Laufbereich gibt es nur wenige Hotspots in Deutschland, wo gute Leute herkommen. Wir haben da eine einzigartige Trainingsgruppe – nicht nur von den Leistungen, sondern auch vom Spirit und der Atmosphäre. Da wird kein Blatt vor den Mund genommen. Da gehört es dazu, dass man sich neckt und Sprüche drückt. Auch bei Trainingslagern mit dem Verband, sind wir schon immer die Gruppe, um die sich alles dreht. Es ist einfach ein top Teamzusammenhalt zwischen und Läufern und unserem Trainer.
Wenn Sie am Samstag an den Start gehen – haben Sie dann ein konkretes Ziel?
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Pfeiffer: In so einem homogenen Feld, macht es keinen Sinn, ein Platzierungsziel auszugeben – weil alles so eng zusammen ist. Deswegen werde ich mich auf mich selbst konzentrieren und versuchen, eine Leistung abzugeben, die meiner Bestzeit entspricht. Ich werde auch im Hinterkopf haben, nicht zu langsam anzugehen, weil es schon um die Qualifikation für die Europameisterschaft im nächsten Jahr geht. Und so viele Chancen haben wir in Corona-Zeiten einfach, um Leistungen zu erbringen. Deswegen werde ich wahrscheinlich eine offensivere Taktik wählen.
Die Bedingungen in Japan sind für einen Marathon nicht gerade ideal: die große Hitze, die hohe Luftfeuchtigkeit. Konnten Sie sich darauf in Kenia vorbereiten?
Pfeiffer: Das Wetter in Kenia war genau das Gegenteil: Da ist gerade Regenzeit, es ist kühler als in Deutschland. Aber gerade im Juni habe ich viele lange Läufe extra so gelegt, dass ich in großer Hitze trainieren konnte – da hatten wir einige 30-Grad-Tage.
Wie wollen Sie den Temperaturen vor Ort trotzen? Bei der WM 2019 in Doha brachen reihenweise Athletinnen und Athleten deshalb zusammen.
Pfeiffer: Doha haben wir natürlich noch vor Augen. Wirklich gut sind die Marathon-Bedingungen nicht. Aber so krass wird es um 7 Uhr morgens hoffentlich nicht sein. Wir haben aber eine Trink- und eine Kühlstrategie entwickelt. Zum Beispiel haben wir Kühlcaps, die unseren Kopf runterkühlen sollen.
Sie sagen es schon: Sie starten um 7 Uhr – in Deutschland ist da Mitternacht. Werden Ihre Freunde wach bleiben und am Fernseher zuschauen? Wie beim Super Bowl?
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Pfeiffer: Ja, da werden schon viele aufbleiben. Es wird ja auch viel spannender als der Super Bowl – und es ist ein Samstag, da kann man ruhig etwas länger wach bleiben.