Tokio. In Japan herrschen während der Corona-Spiele ungleiche Verhältnisse: Die Olympiablase wird überwacht, die Bevölkerung lebt eher normal.

„Wie im Knast“ seien die Bedingungen für coronainfizierte Sportler in Tokio. Mit dieser Aussage hat der deutsche Athlet Simon Geschke eine Woche lang für Schlagzeilen gesorgt. Der Radsportler war am 23. Juli, einen Tag vor dem Straßenrennen, bei dem er hätte antreten sollen, positiv auf Covid-19 getestet worden, musste dann stattdessen in Quarantäne. Was er dort vorfand, hielt er nicht aus: Kaum Frischluft, kein Freigang, immer nur das gleiche Essen, „Reis mit Sojasauce“.

Inzwischen ist der 35-Jährige wieder zu Hause, ein Video von der stürmischen Begrüßung durch seinen Hund am Freiburger Bahnhof wurde in den Sozialen Medien häufig geteilt. „Home sweet home nach fast sechs Wochen. Was für ein wilder Trip das war“, twitterte Geschke nach dem Ende der „sinnlosesten Reise meiner Karriere“.

Athleten klagen über Bedingungen

Auch andere Athleten haben über die Bedingungen geklagt. Holländische Sportler sind im Quarantänehotel nahe dem Olympischen Dorf in einen Sitzstreik in der Lobby getreten, um für mehr Frischluft zu protestieren. Als sie sich nach stundenlangen Verhandlungen letztlich eine überwachte Viertelstunde am offenen Fenster erstritten hatten, sagte die Skateboarderin Candy Jacobs: „Der erste Atemzug frischer Luft war der traurigste und auch beste Moment meines Lebens.“

Was infizierte Athletinnen und Athletin dieser Tage in Tokio erleben, klingt hart, bemitleidenswert, bisweilen grotesk. Und die Umstände dieser Sportler sorgen für derart viel Wind, dass sich im Fall von Simon Geschke sogar die deutsche Botschaft in Japan einschaltete, um ihrem Landsmann eine kleine Erleichterung zu ermöglichen. Am Ende durften ihm Lunchpakete gebracht werden, Geschke erhielt zudem ein Fahrrad mit Rolle, damit er im Zimmer trainieren konnte.

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Und es wurde ihm erlaubt, nach zwei negativen PCR-Tests die Quarantäne zwei Tage früher zu verlassen, als es eigentlich vorgegeben ist. Das Argument der deutschen Seite war, dass sein CT-Wert, der die Viruslast misst, ausreichend gering sei, womit Geschke kaum eine Infektionsgefahr für andere Personen darstelle. Zudem wäre es mit Geschkes Werten in Europa erlaubt, zu reisen. So konnte man sich schließlich darauf verständigen, dass der Radsportler schon am Sonntag die Heimreise antreten durfte.

Geschke über Quarantäne: "Halb Psychiatrie, halb Gefängnis"

Dabei haben Fälle wie der von Geschke, der die Quarantäne auch als „halb Psychiatrie, halb Gefängnis“ bezeichnete, nicht nur auf Seiten von Athleten für Aufregung gesorgt. Gleichzeitig stellte sich auch die Frage, ob eine für zehn Tage angeordnete Quarantäne wirklich auf die diplomatische Ebene gehoben werden müsste. Schließlich wussten alle Sportler, dass diese Spiele in einer Pandemie nicht werden würden wie andere.

„Tokyo 2020“, wie sich die Spiele trotz Verschiebung um ein Jahr weiterhin nennen, ist die umstrittenste Olympia-Ausgabe, die es je gab. Das IOC, die japanische Regierung und das Tokioter Organisationskomitee ignorierten die Forderungen vieler Japaner nach einer Absage. Stattdessen betonten sie, die Sicherheit habe „oberste Priorität“.

Die strengen Quarantäneregeln für infizierte Athleten bilden eine Säule dieses Sicherheitskonzepts. Wobei die Regeln immer lockerer wurden, je näher die Eröffnung der Spiele rückte. Zunächst war man davon ausgegangen, Athleten, die in engem Kontakt mit einer infizierten Person gestanden hatten, müssten den Sportveranstaltungen fernbleiben. Kurz vor dem Olympiastart wurde entschieden, dass betroffene Sportler einige Stunden vor ihrem Wettkampf nur einen negativen Test bräuchten, um doch anzutreten.

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Mittlerweile ist die Regelung auch auf Athleten ausgeweitet, die selbst positiv getestet wurden. Sie müssen sich danach mindestens sechs Tage isoliert haben und dann einen negativen Test vorlegen. Das Argument der Regierung: Die Athleten seien schließlich nur für den Sport gekommen. Zugleich klingt dies in der japanischen Öffentlichkeit nicht danach, als wäre die Sicherheit wirklich „oberste Priorität“.

Zumal die Infektionszahlen in der olympischen Blase – Athleten und Offizielle dürfen sich nur in einem Korridor zwischen Unterbringung und Sportstätten bewegen – täglich zunehmen. Womit sich auch die Frage stellt, inwieweit es sich überhaupt um eine Blase handelt. Toshiro Muto, CEO des Organisationskomitees, beteuert, dass die Infektionsgeschehen innerhalb und außerhalb der Blase nicht miteinander zusammenhängen. Auch von den Olympischen Spielen unabhängige Virologen bestätigen dies bis jetzt, sofern es um die direkte Weitergabe des Virus geht. Allerdings wird auf einen indirekten Effekt der Spiele hingewiesen. Der Fakt, dass „Tokyo 2020“ nun stattfindet, sende an die Bevölkerung die Botschaft, die Situation sei nicht ganz so schlimm. Dies führe zu Leichtsinnigkeit.

Japan verzeichnet täglich neue Rekordwerte bei Neuinfektionen

Dabei hat Japan über die vergangene Woche täglich neue Rekordwerte bei den Neuinfektionen verzeichnet. Zuletzt waren es über 10.000, davon rund 4.000 in Tokio. Bis vor einigen Wochen war Japan noch relativ leicht von der Pandemie betroffen. Allerdings arbeiten die Krankenhäuser im Land – angesichts der alternden Bevölkerung und eines Mangels an Intensivbetten – schon lange an der Kapazitätsgrenze. Zudem sind bisher nur ein Drittel vollständig geimpft.

Die Situation ist mittlerweile so ernst, dass die Regierung nun verkündete, Menschen mit leichten Symptomen und anderen Krankheiten sollen nicht ins Krankenhaus kommen. Das System ist kollabiert. Es wird geschätzt, dass es noch in diesem Jahr 10.000 Neuinfektionen pro Tag allein in Tokio geben wird.

Längst prägt die aggressivere Deltavariante das Infektionsgeschehen. Shigeru Omi, oberster Berater der japanischen Regierung in Gesundheitsfragen mit Bezug auf die Pandemie, warnt seit Wochen davor, dass die Lage aus dem Ruder läuft. Zwar befinden sich Tokio und dessen Umland in einem Ausnahmezustand. Damit werden die Menschen zum Daheimbleiben angehalten, Lokale sollen abends keinen Alkohol ausschenken, Restaurants nur noch zum Mitnehmen verkaufen. Zudem tragen die Menschen auch draußen auf der Straße und sogar beim Joggen eine Maske. Ansonsten aber ist das Leben weitgehend so, als gäbe es keine Pandemie.

Japanische Bevölkerung ist mit Krisenmanagement unzufrieden

Zumal der Ausnahmezustand auch wegen rechtlicher Hürden nicht mehr erwirkt als einen deutlichen Appell. Die Restaurants können trotzdem weiter öffnen. Und in den Läden, die die Unterstützungsgelder für nicht hoch genug halten, herrscht teilweise reges Leben. In Kellerlokalen sitzen Gäste eng an eng, schreien sich im Abendlärm an, vergessen die Abstandsregeln.

Auch weil die japanische Bevölkerung überwiegend mit dem Krisenmanagement der Regierung unzufrieden ist, tut sich die Politik wohl besonders schwer, nun unpopuläre, strengere Maßnahmen zu ergreifen. Schließlich spielte der damals noch regierende Premierminister Shinzo Abe Anfang 2020 noch die Gefahren des Coronavirus herunter, während er wochenlang am olympischen Wettkampfplan für den Sommer des Jahres festhielt. In jener Zeit wuchs auch die Opposition gegen das sportliche Großevent. Viele hatten den Eindruck, Olympia wäre der Regierung wichtiger als die öffentliche Gesundheit.

Nicht zuletzt, um die Absage zu vermeiden, hat die Regierung die deutlichen Einschränkungen, die sie gegenüber der im Land lebenden Bevölkerung am Anfang verschlafen hatte und nun kaum mehr verhängen kann, auf die ausländischen Olympia-Einreisenden abgewälzt. Schließlich sind diese die vielen Gesichter einer nach wie vor mit Skepsis betrachteten Veranstaltung.