Tokio. Bei Olympia 2021 in Tokio fällt in der Leichtathletik ein Weltrekord nach dem anderen. Wegen Trampolin-Schuhe und Trampolin-Bahn?

Zwei liegen auf dem Boden, eine dritte Athletin steht etwas verloren herum. Sie hat sich eine holländische Flagge um die Schultern gewickelt. Kugelstoßen der Zehnkämpfer läuft, und Hochsprung der Siebenkämpferin. Ein wuseliger Leichtathletikvormittag im Olympiastadion von Tokio. Alles ganz normal. Moment. Normal? Gerade ist ein ziemlich schnelles Rennen über die Bühne gegangen. Es ist sogar das schnellste der Geschichte, seit … gestern. Tag für Tag wird in Tokio gerade Leichtathletik-Geschichte umgeschrieben.

Am vergangenen Samstag: Die Jamaikanerin Elaine Thompson-Herah rennt die 100 Meter in 10,61 Sekunden und kommt den sagenumwobenen 10,49 Sekunden der verstorbenen Weltrekordlerin Florence Griffith Joyner, aufgestellt vor mehr als drei Jahrzehnten, so nah wie keine vor ihr. Am Sonntag: Der Italiener Lamont Marcell Jacobs, im vergangen Jahr noch ein durchschnittlicher Knapp-über-zehn-Sekunden-Sprinter, wird in 9,80 Sekunden 100-Meter-Olympiasieger. Am Dienstag: Thompson-Herah lässt über 200 Meter ebenfalls irre 21,53 Sekunden folgen.

Die Weltrekorde fallen und fallen

Und der Norweger Karsten Warholm liefert über 400 Meter Hürden die bislang wahnwitzigste Fabelzeit dieser Spiele: 45,94 Sekunden. Der Zweite, Rai Benjamin (USA), bleibt in 46,17 Sekunden ebenfalls unter dem alten Weltrekord Warholms, aufgestellt ja überhaupt erst am 1. Juli (46,70). Der Dritte, Alison Dos Santos (Brasilien), hätte mit seinen 46,72 Sekunden vor jenem 1. Juli auch den Weltrekord von Kevin Young (46,78 Sekunden) übernommen, der zuvor 29 Jahre lang Bestand hatte.

Schließlich also der Mittwoch: Sydney McLaughlin aus den USA verbessert nach einem harten Ringen gegen Landsfrau Dalilah Muhammad über ebenfalls 400 Meter Hürden ihren eigenen, erst Ende Juni aufgestellten Weltrekord um 44 Hundertstel auf 51,46 Sekunden. Ex-Weltrekordlerin Muhammad bleibt in 51,58 Sekunden genauso unter dem alten Topwert. Und Femke Bol, die mit der Flagge und die Einzige, die sich deutlich erkennbar freut, holt Bronze mit Europarekord (52,03).

Die US-Amerikanerin Sydney McKaughlin nach ihrem Weltrekord über die 400 Meter Hürden.
Die US-Amerikanerin Sydney McKaughlin nach ihrem Weltrekord über die 400 Meter Hürden. © firo

In den beiden Hürden-Rennen wäre jeder der drei Erstplatzierten mit seiner Zeit noch vor sechs Wochen zum Weltrekordler aufgestiegen. Das ist, als würden beim legendären Golf-Major in Augusta sechs Spielern innerhalb von zwei Tagen mit einem Hole in one auftrumpfen.

Olympia 2021: Die Inflation der Weltrekorde in der Leichtathletik

Warholm zerriss vor Freude sein Trikot. McLaughlin jubelt nicht. Sie weint nicht vor Glück. Die Fotografen müssen betteln, das obligatorische Diese-tolle-Zeit-bin-ich-gerannt-Foto an der Anzeigetafel machen zu dürfen. Und die Reporter auf der Tribüne müssen dreimal hingucken, ob da wirklich „WR“ steht. Sieht so die Inflation von Weltrekorden aus? Später wird die junge Läuferin sagen: „Ich bekomme das gerade noch nicht in meinen Kopf. Ich muss es erst einmal verarbeiten, dann feiere ich später.“

Mit dem Verarbeitungs-Problem steht sie nicht allein da. Zeiten wie diese, zumal zuhauf und in Serie, sind schwer zu verarbeiten. Sie sind so fantastisch wie verstörend. Nach anderthalb Jahren Corona-Pandemie ist daher die Frage allgegenwärtig: Wie gut waren die Trainingskontrollen in Zeiten von Kontaktbeschränkungen in allen Lebensbereichen? Travis Tygart, Chef der amerikanischen Anti-Doping-Agentur, erinnerte zuletzt im ZDF daran: „Dopingkontrollen bei Meisterschaften sind ein Intelligenztest. Es erwischt nur die Dummen.“ Neu ist diese Erkenntnis nicht.

Trampolin-Schuhe und Trampolin-Bahn bei Olympia in Tokio

Neu sind dagegen so manches Schuh-Modell und die Laufbahn in Tokio. Darüber diskutieren die Athleten dann auch lieber als über den Betrugsverdacht. Warholm etwa berichtete, dass seine Wettkampf-Spikes der Marke Puma unter Mitarbeit der Spezialisten des Formel-1-Teams von Mercedes entstanden ist. Dass auch er mit einer dieser Carbon-Platten im Schuh laufe, die so leistungsförderlich sein sollen. Seine sei aber „sehr dünn, so dünn wie möglich, so dünn, dass die Resultate noch vergleichbar sind“. Nike hingegen, der Ausrüster von Konkurrent Benjamin, habe kleine Trampoline aus seinen Schuh-Modellen gemacht.

Auch interessant

Und das Geheimnis der Bahn? Die von Warholm als „verrückt, absolut großartig“ beschrieben wird und von Benjamin als „phänomenal“? Es sei die schnellste der Geschichte, sie könne die Leistung von Athleten um ein bis zwei Prozent steigern, erklärte Andrea Vallauri, Bahn-Designer der Firma Mondo, dem Guardian. Der Belag bestehe aus einer unteren Schicht mit kleinen Luftpolstern und einer oberen, der ein neues Gummi-Granulat beigemengt wurde. Zusammen ergäbe das eine Art Trampolin-Effekt.

Die Leichtathletik gibt sich wahrlich Mühe, allen Zweifeln zu entkommen: Mit Trampolin-Schuhen auf der Trampolin-Bahn von Tokio.