Mönchengladbach/Essen. Diabetes-kranke Schülerin starb auf einer Stufenfahrt. Das Urteil gegen zwei Lehrerinnen sorgt für große rechtliche Verunsicherung.

Es sollte eine schöne Stufenfahrt nach London sein, doch sie endete mit einer Tragödie: Eine 13-jährige Schülerin, die Diabetikerin war, kam im Juni 2019 zu Tode. Fünfeinhalb Jahre später ist das Urteil gegen die beiden angeklagten Lehrerinnen einer Schule in Mönchengladbach jüngst rechtskräftig geworden. Nun stellt sich die Frage: Was bedeutet es mit Blick auf die allgemeine Praxis bei Klassenfahrten?

„Vor dem Hintergrund der Rechtserkenntnis des Landgerichts Mönchengladbach kann man Lehrern nur raten, an einer Klassenfahrt oder ähnlichen Veranstaltung, wie Wandertag oder Stufenfahrt, nicht teilzunehmen“, sagt Lutz Adam, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Verteidiger einer der beiden angeklagten Lehrerinnen. Die beiden Frauen waren im Februar 2024 vom Landgericht Mönchengladbach wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen zu Geldstrafen verurteilt worden und hatten dagegen Revision eingelegt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte die Revision schließlich verworfen, weil die Prüfung in Karlsruhe ergab, dass bei dem Urteil keine Rechtsfehler entdeckt worden sind, wie der BGH im Januar bekanntgab.

Urteil im Fall „Emily“: Vorerkrankungen hätten schriftlich abgefragt werden müssen

„Die beiden Lehrerinnen sind verurteilt worden, weil sie vor der stufenübergreifenden Fahrt schriftlich hätten abfragen müssen, inwieweit die zu betreuenden Schülerinnen und Schüler Vorerkrankungen haben“, erläutert Rechtsanwalt Adam. Nach Auffassung der Richter, hätten die Lehrerinnen „nur so ihrer Sorgfältigkeitspflicht genügt“, sagt Adam.

Die beiden Frauen „haben dies jedoch nur mündlich getan, auf einer Gruppen-Informationsveranstaltung für Eltern und Schüler vor der Reise.“ Und dabei hatte das Mädchen und deren Vater, der sie begleitet hatte, „die Erkrankung nicht erwähnt.“ Das Fazit des Anwalts: „Wenn sich diese Rechtssicht durchsetzt, bewahrheitet sich ein verbreiteter Spruch unter Lehrkräften, wonach man bei Teilnahme an einer Klassenfahrt ‚stets mit einem Bein im Gefängnis steht‘.“

Archivbild. Anwalt Lutz Adam glaubt, dass das Urteil im Fall Emily auch Bedeutung hat für andere Lehrkräfte.
Archivbild. Anwalt Lutz Adam glaubt, dass das Urteil im Fall Emily auch Bedeutung hat für andere Lehrkräfte. © dpa | Oliver Berg

Dass Lehrkräfte Klassenfahrten oder ähnliche schulische Gruppenveranstaltungen künftig besser meiden sollten, zu dieser Konsequenz möchte man bei der Lehrergewerkschaft GEW NRW nicht raten. Doch wie sich Lehrkräfte, die an solchen Gruppenfahrten teilnehmen, mit Blick auf die Abfrage von möglichen Vorerkrankungen von Schülerinnen und Schülern verhalten müssen, dazu gebe es in NRW keine klare Regelung, kritisiert eine Sprecherin: „Die Abfrage zu eventuellen Vorerkrankungen bei den Eltern wird von den Schulen und Bezirksregierungen, als Schulaufsicht in NRW, sehr unterschiedlich gehandhabt“, heißt es bei der GEW.

Lehrergewerkschaft zu Klassenfahrt: „Viele Lehrkräfte sind verunsichert“

Das NRW-Schulministerium verweist auf seine „Richtlinien für Schulfahrten“, einem Runderlass vom März 1997. Darin heißt es im Absatz „Aufsicht, Gefahrvermeidung und Unfallverhütung“, dass neben „Alter, Entwicklungsstand und Ausprägung des Verantwortungsbewusstseins der Schülerinnen und Schüler“ auch „mögliche Gefährdungen“ durch Behinderungen oder chronischen Erkrankungen „zu berücksichtigen“ sind. Details, wie dies zu erfolgen habe, stehen dort nicht.

Ein Sprecher von Schulministerin Dorothee Feller ergänzt auf Nachfrage: „Die im Hinblick auf Vorerkrankungen erforderlichen Informationen müssen im Vorfeld einer Fahrt eingeholt werden. Dies kann auf verschiedenen Wegen erfolgen, beispielsweise durch Einblicke in die Schülerakte oder eine Abfrage im Vorfeld der Fahrt. In dem Urteil hat das Gericht bestätigt, dass der geltende Rechtsrahmen eindeutig und ausreichend ist.“

Bei der GEW hat man einen anderen Eindruck: „Viele Lehrkräfte (sind) über den Umfang der Sorgfaltspflichten im Vorfeld und bei der Durchführung von Klassenfahrten verunsichert. Gerade die Betreuung und Begleitung von chronisch erkrankten Schülerinnen und Schülern kann in der Praxis besondere Herausforderungen darstellen“, sagt die Sprecherin.   

GEW sieht Schulministerium in der Pflicht

Die Gewerkschaft fordert deshalb: „Aufgrund der aktuellen BGH-Rechtsprechung ist das NRW-Schulministerium in der Pflicht, einheitliche, verbindliche Regelungen zu treffen, die die Lehrkräfte in diesen schwierigen Fragen mit hohem Haftungsrisiko nicht allein lassen, sondern Mit-Verantwortung übernehmen.“ Dazu sollten „bestehende Handlungsempfehlungen zu Klassenfahrten an die neue Rechtslage angepasst werden“, fordert die GEW.

Zudem brauche es „ein landeseinheitliches Formular zur verpflichtenden Abfrage von Vorerkrankungen bei Klassenfahrten.“ Da das Landgericht Mönchengladbach es in seinem Urteil als notwendig ansah, dass derartige Abfragen schriftlich sein müssten, ist aus GEW-Sicht spätestens deshalb nun „der Grund gegeben, davon keine Ausnahme mehr zu machen.“

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Ob dies tatsächlich helfen kann, dramatische Fälle wie den der Schülerin Emily zu verhindern? Die GEW ist in diesem Punkt vorsichtig. Die Praxis zeige, „dass die Aufsichtspflicht von Lehrkräften in vielen Fällen nicht unabhängig von den konkreten Gegebenheiten beurteilt werden kann“, sagt die Sprecherin: „Wir warnen davor, die Verantwortung der Lehrkräfte und ihre Aufsichtspflicht an diesem Unglücksfall festzumachen und zu verallgemeinern“, sagt sie. „Doch dort, wo verbindliche Regelungen getroffen werden können, sollten sie auch unbedingt getroffen werden“, fordert die Gewerkschaft.

Anwalt: Schriftliche Abfrage kann nur „Schein-Sicherheit“ geben

Rechtsanwalt Lutz Adam warnt davor, zu glauben, durch detailliertere Rechtsvorschriften ließen sich Risiken für Lehrpersonal bei der Begleitung von Stufen- oder Klassenfahrten wirksam eingrenzen: „Es zeigt sich durch andere Fälle, dass eine schriftliche Abfrage nur eine Schein-Sicherheit geben kann“, sagt Adam. Spinne man das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach im Fall Emily weiter, „müssten sich Schulen zu Beginn jedes Schultags von den Eltern schriftlich bescheinigen lassen, dass die Kinder gesund sind und beschult werden können,“ meint Adam: „Das halte ich für absurd!“

Eine ‚sichere Seite‘ für Aufsichtspersonal bei Schulfahrten existiert aus Sicht von Adam nach dem Urteil des Landgerichts Mönchengladbach zudem „nicht mehr“. Zur Erinnerung: Zum Prozess kam es erst auf die Beschwerde des biologischen Vaters von Emily; zuvor hatte das Landgericht die Eröffnung eines Hauptverfahrens abgelehnt. Schließlich änderte auch die Staatsanwaltschaft ihre Rechtssicht, und es nahm sich eine andere Kammer des Gerichts des Falls an, was in der Verurteilung der beiden Lehrerinnen mündete. „Das Landgericht hat seine Vorstellung an Stelle der Erfahrung und der Kenntnisse des Lehrpersonals und der Schulleitung gestellt“, sagt Adam: „Das kann jederzeit in anderer Konstellation wieder passieren“, glaubt er.

Stufen- und Klassenfahrten: Kein rechtlich „sicherer Weg“ für Lehrkräfte

Basis für die Einschätzung des Düsseldorfer Rechtsanwalts ist ein anderer dramatischer Fall aus der jüngeren Rechtsgeschichte. Eine türkische Schülerin war Mitte der 1980er Jahre bei einem Schulausflug in einem Baggersee ertrunken, obwohl bei den Eltern zuvor schriftlich abgefragt worden war, ob die Kinder schwimmen können. Doch: „Die schriftliche Erklärung, die die Lehrerin abgefragt hatte und die ihr vorlag, war gefälscht“, referiert Adam. Das mit dem Fall befasste Oberlandesgericht Köln (OLG) sagte 1985 zudem: „Nach den beigebrachten Erklärungen blieb unklar, wie gut die Kinder schwimmen konnten. Da nicht nach dem Freischwimmerzeugnis gefragt wurde, war nicht auszuschließen, dass auch solchen Kindern Schwimmfähigkeit bestätigt wurde, die tatsächlich nur wenige Züge schwimmen konnten und daher gefährdet waren, wenn sie plötzlich keinen Grund mehr unter den Füßen hatten.“

Daraus folgt für Adam: „Man kann sich nicht genug Vorsichtsmaßnahmen ausdenken. Wenn das Unglück eintritt, wird es aus der zeitlichen Rückschau stets Handlungen geben, deren ‚Versäumnis‘ vorgeworfen werden kann.“ Aus diesem Beispiel folge: „Die Idee von einem ‚sicheren Weg‘ durch eine schriftliche Abfrage ist sachfremd. Es ist nicht in der Sache sicher, sondern nur für die Personen, die sich selbst rechtlich absichern wollen.“