Dortmund. War es Notwehr? Seit einem Jahr läuft der Prozess um die tödlichen Schüsse auf Mouhamed Dramé (16) in Dortmund. Bald soll ein Urteil fallen.
Fünf Schüsse aus einem Maschinengewehr der Polizei töteten den 16-jährigen Mouhamed Dramé vor mehr als zwei Jahren in Dortmund. Die Polizei war gerufen worden, weil der Flüchtling mit einem Messer auf den eigenen Bauch gerichtet in der Nische eines Innenhofs lehnte. Dann ging einiges schief.
Was am 8. August 2022 bei dem Einsatz in der Dortmunder Nordstadt geschah, ist nach mehr als 25 Prozesstagen weitgehend geklärt. Auf der Anklagebank im Gericht sitzen fünf Polizisten, am Montag sollen letzte Zeugen gehört und mit den Schlussplädoyers begonnen werden. Doch welche individuelle Schuld trifft die Beamten? Und welche Strafe wäre angemessen? Das könnte das Gericht noch vor Weihnachten entscheiden. Als letzter Verhandlungstag ist bislang der 12. Dezember vereinbart. Nach rund einem Jahr ist der Prozess damit auf der Zielgeraden.
Sidy Dramé: „Er war ein sehr braver Junge“
Mouhamed war eines von zehn Kindern der Familie Dramé, die in einem kleinen Dorf im Senegal lebt. In der Hoffnung auf ein besseres Leben war er nach Deutschland geflohen, lebte erst seit wenigen Tagen in der Jugendhilfeeinrichtung, in der sich der Einsatz abspielte. Zeugen und Nebenkläger zeichneten das Bild eines eher ruhigen, aber freundlichen Jungen, der Fußball und seine Familie liebte.
„Er war ein sehr braver Junge, der alles getan hat, damit seine Familie in einer guten Lage ist“, sagte ein ältester Bruder Sidy Dramé, selbst Nebenkläger im Prozess, einmal vor Journalisten. Dass er wegen psychischer Probleme und lebensmüder Gedanken am Tag vor seinem Tod eine entsprechende Klinik aufgesucht, aber wieder verlassen hatte, davon erfuhr die Familie nichts. „Immer wenn er mit uns gesprochen hat, hat er gesagt, dass er uns allen helfen wird, wenn er es schafft“, so sein Bruder.
Erst Pfefferspray, dann Taser, dann Schüsse
Am 8. August 2022 entdecken Mitarbeiter der Wohngruppe den Jugendlichen im Innenhof. Er lehnt in einer Nische, ein Küchenmesser auf seinen nackten Oberkörper gerichtet und reagiert nicht auf Ansprache. Die Einrichtung verständigt die Polizei. Auch die eingesetzten Beamten können ihn nicht aus seiner Apathie reißen: Sie sprechen ihn an, doch er bleibt versteinert in seiner Position. Dann tun die Polizisten, was sie zuvor in einer Einsatzbesprechung mit ihrem Dienstgruppenleiter abgestimmt haben.
Damit er das Messer fallen lässt, sprüht ihm eine Beamtin Pfefferspray ins Gesicht. Als Mouhamed sich dann plötzlich aufrichtet und sich auf die Beamten zubewegt, versuchen zwei ihn mit Tasern zu stoppen, was nicht gelingt. Sekunden später fallen die Schüsse. Mouhamed stirbt kurz darauf im Krankenhaus.
Ermittler: Keine Gefahr für Beamte oder Dritte zu erkennen
Wie immer, wenn Polizisten schießen, untersucht die Staatsanwaltschaft, ob dies rechtmäßig war. Doch die Ermittler kommen zu dem Schluss, dass die tödlichen Schüsse fielen, ohne dass Gefahr für die Beamten oder Dritte zu erkennen gewesen war. Schon der Einsatz von Pfefferspray und Tasern sei ohne Vorwarnung erfolgt, so Oberstaatsanwalt Carsten Dombert bei der Anklageverlesung vor rund einem Jahr. Er hatte den Schützen daher wegen Totschlags angeklagt. Den anderen Polizisten, alle 30 bis 35 Jahre alt, wird in der Anklage Körperverletzung vorgeworfen, ihrem 56-jährigen Einsatzleiter Anstiftung dazu.
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Im Prozess geht es auch immer wieder um die Frage, welche Alternativen die Beamten zu welchem Zeitpunkt im fatalen Lauf der Dinge gehabt hätten: War es schon das robuste Einschreiten mit Pfefferspray, das aus einer unbeweglichen, äußerlich ruhigen Lage, erst das dynamische Durcheinander machte, in dem die Schüsse fielen? Welche Verantwortung trägt hier ihr Vorgesetzter?
Trotz langem Prozess: Viele offene Fragen
Haben die Polizisten genug getan, um verbal mit dem jungen Menschen in seiner Ausnahmesituation in Kontakt zu kommen? Und nutzten sie die richtige Sprache und Ansprache? Welche Wirkung hatten die Taser? Und wie bedrohlich schnell und nah kam Mouhamed auf die postierten Beamten zu? Wollte er sie angreifen, sich wehren oder einfach nur der Situation entfliehen? Wie nahmen die Beamten die Situation wahr?
Zum Ende des Prozesses weisen Staatsanwaltschaft und Gericht darauf hin, dass zwischen Freispruch und Verurteilung wegen vorsätzlicher Straftaten auch rechtlich abgewogen werden müsse, dass dem Handeln der meisten Angeklagten eine Fahrlässigkeit zugrunde liegen könnte. „Wir können nicht in den Kopf des Geschädigten gucken“, erklärte der Richter. Und so sei es abzuwägen, dass sich etwa der Schütze in einer Notwehrsituation wähnte.
Schütze Fabian S. ringt bis heute mit der Tat
„Ich bin für den Tod verantwortlich. Es trifft mich sehr und macht mich traurig“ - mit eindringlichen Worten hatte sich der angeklagte Schütze im Prozessverlauf an die beiden im Gerichtssaal anwesenden Dramé-Brüder gewandt. Seit ihn nach dem Einsatz die Todesnachricht erreichte, frage er sich jeden Tag, ob er etwas hätte anders machen können.
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Doch gleichzeitig ließ er keinen Zweifel daran, dass er sich bedroht gefühlt habe: In seiner fast einstündigen Aussage zum Geschehen, schilderte der 31-Jährige, wie alles sehr schnell gegangen sei und er sich und seine Kollegen dem Einsatzbefehl entsprechend habe schützen müssen. Für einen Warnschuss sei keine Zeit gewesen. In hohem Tempo sei der 16-jährige Senegalese mit einem Messer in der Hand auf seine Kollegen zugelaufen.
Einsatzleiter sah „Gefahr von Leib und Leben“
Diese und der Einsatzleiter sowie als Zeugen geladene weitere Beamte hatten in ihren Aussagen zuvor im Wesentlichen einen übereinstimmenden Ablauf geschildert - und keine eigenen Fehler in ihrem Vorgehen festgestellt oder gar tiefes Bedauern geäußert.
Um den suizidalen Jugendlichen schnell zu entwaffnen, hatte er den Einsatz von Pfefferspray angeordnet, schilderte der Einsatzleiter in seiner Aussage. Taser und Maschinenpistolen seien zur Sicherung vorgesehen und eingesetzt worden. Für ihn sei es dabei um die „Gefahr von Leib und Leben“ gegangen, berichtet etwa der Polizist, der wegen des Tasereinsatzes angeklagt ist.
Mouhamed Dramé ist zum Symbol für Polizeigewalt geworden
Während für polizeikritische Aktivisten, die den Prozess eng begleiteten, Mouhamed Dramé längst zum Symbol für Polizeigewalt geworden ist, legten sich Zeugen, die sich mit Polizeiarbeit und Einsatzmitteln auskennen, nicht fest, ob das robuste Vorgehen der Polizei angemessen war: Es gebe keine Ge- oder Verbote bei der Einsatzplanung oder Wahl der Einsatzmittel. Das entscheide immer der Einsatzleiter vor Ort, hieß es einhellig.
Die Plädoyers beginnen am 2. Dezember. Dann wird zunächst der Staatsanwalt vortragen, welches Urteil er für angemessen hält. (dpa)