Dortmund. Im Prozess gegen Polizisten in Dortmund sagen Kollegen und Retter aus. Wie der junge Senegalese vor und nach den Schüssen reagierte.

Das Leben von Mouhamed Dramé war in Gefahr an jenem Nachmittag im August 2022. Deshalb riefen seine Betreuer die Polizei, deshalb eilten die Beamten nah an den Jungen heran. Zu nah, sagt ein Polizist im Dortmunder Landgericht: „Näher als man an einen Messertäter heran sollte.“ Der 16-Jährige aus dem Senegal hatte doch dieses Küchenmesser in der Hand, habe sich offenbar „selbst richten“ wollen. Der Notruf an die Rettungskräfte heiß: „Suizid.“ Den aber, sagen alle Zeugen aus den Reihen der Polizei, galt es gerade zu verhindern. Warum Mouhamed am Ende dennoch starb, getroffen von sechs Schüssen aus einer Dienstwaffe, versucht das Landgericht Dortmund seit zehn Prozesstagen zu klären.

Die fünf Angeklagten sagen bisher nichts – die, die Mouhamed mit Pfefferspray, mit Tasern, mit der Maschinenpistole beschossen, und ihr Dienstgruppenleiter, der die Befehle gab: Totschlag, Körperverletzung, Anstiftung dazu wirft man ihnen vor. Aber ihre Kollegen, die dabei waren, reden. Im Zeugenstand erzählen sie allesamt eine ähnliche Geschichte: Wie sie den jungen Mann, gerade eine Woche in Dortmund, vorfanden nach einem Hilferuf aus seiner Wohneinrichtung in der Nordstadt. Er kauerte im Hof, in einer hinteren Ecke, von drei Seiten von Mauern umgeben. Das Messer mit seiner 20 Zentimeter langen Klinge hielt er gegen seinen eigenen Bauch, die „Spitze am Bauchansatz“, erinnert sich am Mittwoch ein 33-jähriger Beamter.

Bei einigen Prozesstagen dabei: Mouhameds Brüder Sidy (l.) und Lassana (r.) Dramé mit ihrem Dolmetscher (M.).
Bei einigen Prozesstagen dabei: Mouhameds Brüder Sidy (l.) und Lassana (r.) Dramé mit ihrem Dolmetscher (M.). © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Mouhamed Dramé: Hat niemand gemahnt, die Waffe wegzulegen?

Den Oberkörper frei, den Blick starr in den Himmel gerichtet, so sah der Zeuge Mouhamed zum ersten Mal. „Hey!“ habe er gerufen, gepfiffen, versucht, „ihn aus den Gedanken zu reißen“. Der 33-Jährige war dabei, als ein Kollege den Jungen auf Spanisch ansprach. Ein paar Brocken soll der verstanden haben, obwohl er im Senegal französisch sprach und die Sprache Wolof. Allein, er reagierte nicht. „Es war“, sagte ein anderer Beamter, „als würde er durch mich hindurchgucken.“ Man habe Mouhamed nicht erreicht. Als Polizisten zu erkennen gaben sich die Zivilkräfte nicht, das bestätigten sie in den vergangenen Wochen alle. Auch an Warnungen können sie sich nicht erinnern: Niemand hat offenbar gemahnt, die Waffe wegzulegen, niemand gedroht.

Umgekehrt fühlten sich die Beamten bedroht, auch das wiederholen sie immer wieder. „Ich habe die Situation als bedrohlich empfunden“, ist ein viel gehörter Satz. Ein Zeuge erklärt, eine Person mit einem Messer sei immer bedrohlich, als Mouhamed sich aufgerichtet habe, umso mehr. „Ich konnte ja nicht wissen, wohin er mit dem Messer wollte und was tun, er hätte mich verletzen können.“ Er habe „ein schlechtes Bauchgefühl“ gehabt, eigentlich seien sie allesamt „zu dicht dran“ gewesen. Sieben Meter, so haben sie das auf der Polizeischule gelernt, in Dortmund waren es drei, vier, maximal fünf.

Die angeklagten Polizistinnen und Polizisten sind auf freiem Fuß, werden grundsätzlich aus einem anderen Raum in den Gerichtssaal geführt.
Die angeklagten Polizistinnen und Polizisten sind auf freiem Fuß, werden grundsätzlich aus einem anderen Raum in den Gerichtssaal geführt. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Polizei wollte einen „Suizid unter allen Umständen verhindern“

Dabei galt es, einen Suizid „unter allen Umständen zu verhindern“, man könne ja, hatte ein anderer Polizist erklärt, „nicht zusehen, wie sich jemand suizidiert“. Es habe also Zeitdruck geherrscht und trotzdem ein klares Einsatzziel gegeben: „Wir wollten helfen“, der Zeuge betont das zweimal. Von Ratlosigkeit sprachen seine Kollegen zuvor, wie sollte man mit der Situation umgehen?

Wie aus Mitschnitten am Tattag und auch Zeugenaussagen hervorgeht, gingen die Beamten so damit um: Sie besprühten den Jugendlichen mit Pfefferspray. Das aber hat offenbar aus der „statischen“ oder auch „stabilen“ Situation eine instabile, dynamische gemacht. Fast alle Zeugen berichten, dass Mouhamed Dramé nach dem Sprühstoß von der Wand löste, „mit schnellen Schritten“ oder auch „zügig“ auf die Beamten zu bewegte. Die rechte Hand am Kopf, die linke immer noch am Messer. Den 33-jährigen Zeugen überraschte das: „Ich hatte erwartet, dass er die Hände vors Gesicht nimmt und das Messer fallen lässt.“ Es habe danach „unglaublich kurz“ gedauert, bis die Schüsse fielen, erst aus zwei Tasern, dann aus der Dienstwaffe. Sekunden nur, so steht es in der Anklage.

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War das nötig? Auch um diese Frage geht es in Dortmund. „Ich bin zu keinem Ergebnis gekommen, wie man das anders hätte lösen können“, hat ein Beamter ausgesagt. Ein anderer Polizist berichtete, er habe selbst die Hand ständig an der Waffe gehabt. Bei einem Messereinsatz, erklärte er, „kann und muss man als Polizist schießen“. Was gewesen wäre, hätte nicht der 30-Jährige abgedrückt, der nun wegen Totschlags angeklagt ist? „Dann hätte ich geschossen.“ Rechtsanwältin Lisa Grüter als Vertreterin der Hinterbliebenen sieht die Sache anders: Für die Polizei sei es offenbar gar nicht denkbar gewesen, kein Zwangsmittel anzuwenden. „Von Mouhamed ging keine Gefahr für Dritte aus.“ Insofern habe sich die Anklage bisher bestätigt.

Lisa Grüter als Nebenklage-Vertreterin der Familie Dramé sieht die Anklage bislang bestätigt: „Von Mouhamed ging keine Gefahr für Dritte aus.“
Lisa Grüter als Nebenklage-Vertreterin der Familie Dramé sieht die Anklage bislang bestätigt: „Von Mouhamed ging keine Gefahr für Dritte aus.“ © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Juristen rätseln: Löste die Polizei die Eskalation mit dem Pfefferspray erst aus?

Die Juristen aber streiten um die Frage: Hat nicht erst der Einsatz des Pfeffersprays aus „statischen Lage“ vor der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth eine „dynamische“ gemacht? So sieht es ja auch die Staatsanwaltschaft: Erst durch die Polizei sei die Situation eskaliert. Hingegen erklärt Lars Brögeler als Verteidiger einer der Beamtinnen: Die angeblich statische Lage hätte „in jeder Sekunde kippen können“. Sie sei nicht nur für die Polizisten, sondern schließlich auch für Mouhamed selbst bedrohlich gewesen. Er hätte sich selbst „das Messer in den Bauch rammen“ können. So sieht das auch sein Kollege Christoph Krekeler, der den Schützen vertritt: „Eine Lage, die jederzeit kippen kann, ist eine unsichere Lage.“

Mouhamed Dramé war trotz der sechs Schüsse nicht sofort tot. Mehrere Polizisten und am jüngsten Prozesstag auch drei Sanitäter sagen, der 16-Jährige habe gestrampelt, versucht, sich aufzurichten, und sich gegen die Retter massiv gewehrt. Noch auf der Trage und später im Rettungswagen sei es deshalb kaum möglich gewesen, ihn zu behandeln. „Auch das Anlegen einer Sauerstoffmaske war nicht möglich“, erklärt ein Feuerwehrmann, „weil er immer wieder seinen Kopf weggedreht hat.“ Atmung und Pulsschlag seien aber normal gewesen. Letztlich legten die Sanitäter einen Zugang am Bein. Von Polizisten begleitet brachte man Mouhamed in den Schockraum eines Krankenhauses. Dass er gestorben ist, erfuhren sie erst nach Rückkehr zur Wache.

Statische oder unsichere Lage? Verteidiger Christoph Krekeler (v.r.) gewann aus den Zeugenaussagen neue Erkenntnisse. Sein Mandant ist der Polizist, der auf Mouhamed schoss.
Statische oder unsichere Lage? Verteidiger Christoph Krekeler (v.r.) gewann aus den Zeugenaussagen neue Erkenntnisse. Sein Mandant ist der Polizist, der auf Mouhamed schoss. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Mouhameds Brüder wollen noch länger in Dortmund bleiben

Erst Mitte April will sich der erste Angeklagte selbst zur Sache äußern. Für den Einsatzleiter kündigte sein Verteidiger eine Einlassung an. Bislang sprachen im immer noch vollen Gerichtssaal lediglich ihre Kollegen für sie: „Niemand hat gewollt, was da passiert ist.“ Und: „Gut geht es keinem von uns.“