Dortmund. Mehr als zwei Jahre nach dem Tod des Flüchtlings Mouhamed in Dortmund steht das Urteil an. Gibt es Freisprüche für alle Beamten?

Konkrete Gefahr, abstrakte Gefahr, keine Gefahr? Es geht viel um diese Frage am Mittwoch im Dortmunder Prozess um den Tod von Mouhamed Dramé. Nach der Staatsanwaltschaft beschäftigen sich sechs Rechtsanwälte in ihren Schlussvorträgen damit: War es Notwehr, dass Polizisten den jungen Flüchtling mit dem Messer in der Hand stoppen wollten, war es ein Irrtum oder gar „struktureller Rassismus“, wie die Opfervertreterin sagt – in der kommenden Woche wird das Landgericht entscheiden.

Am Ende fließen noch einmal Tränen. Keiner der Angeklagten will noch etwas sagen, alle bestätigen knapp die Vorrede ihrer Verteidiger – nur die jüngste Polizistin, die seit nunmehr 30 Prozesstagen allein in der zweiten Reihe sitzt, möchte etwas loswerden. Aber sie kann nicht. „Am Ende bleibt die Tatsache“, hebt die 30-Jährige an, „dass Mouhamed nicht mehr am Leben ist.“ Dann schweigt sie lange, kämpft gegen die Tränen, verliert. Mit erstickter Stimme bringt die Beamtin heraus: „Das hat keiner von uns gewollt.“

Die Brüder Lassana und Sidy Dramé (v.l.) kamen zu Jahresbeginn nach Dortmund. Sie bleiben bis zum Ende des Prozesses in Deutschland. 

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Die Brüder Lassana und Sidy Dramé (v.l.) kamen zu Jahresbeginn nach Dortmund. Sie bleiben bis zum Ende des Prozesses in Deutschland. Foto: Andreas Buck / FUNKE Foto Services © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Polizistin unter Tränen: „Keinen anderen Ausweg gesehen“

Es tue ihr „unfassbar leid für alle Beteiligten“, sie selbst habe an jenem 8. August 2022 „keinen anderen Ausweg gesehen“. Keinen als den, ihren Taser abzufeuern, der Anordnung ihres Chefs zu folgen. Es war, das bestreitet nach der Beweisaufnahme niemand mehr, vor allem diese Frau, auf die sich der Flüchtling zubewegte, als die Schüsse fielen. Ob es ein Angriff war oder eine Reaktion auf Pfefferspray und Stromstöße – das ist für die Verteidiger der fünf an diesem Mittwoch nicht mehr wesentlich.

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Für die Familie Dramé schon. Dass ihrem Sohn und Bruder vorgeworfen wird, er habe Polizisten mit dem Messer angegriffen, sei für sie „kaum zu ertragen“, sagt Nebenklage-Vertreterin Lisa Grüter in ihrem Plädoyer. „Tonnenschwere Erwartungen“ hätten auf dem Jungen gelastet, „größte seelische Nöte“ habe er ausgestanden auf und nach seinem Weg aus dem Senegal nach Europa, wo er ein besseres Leben suchte. Im August vor zwei Jahren habe er sich in einer „seelischen Ausnahmesituation“ befunden, auch das bestreitet niemand: „Er schaffte es nicht, mit den Dämonen seiner Flucht fertigzuwerden.“

Nebenklage: Eine „Kaskade von Waffeneinsätzen“

Mit dem Messer gegen seinen Bauch gerichtet hockte Mouhamed damals im Innenhof einer Jugendeinrichtung in der Nordstadt, die Polizei, sollte „sein Leben retten“. Der junge Schwarze, laut Gerichtsakten 16 Jahre alt, habe aber „für niemanden und zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr“ dargestellt. Erst die Polizei, so Grüter, habe aus einer statischen Lage eine dynamische gemacht, „ohne jede Not“ und ohne dem jungen Mann zu sagen, dass er das Messer fallen lassen solle. Mit seinem Einsatzbefehl habe der Dienstgruppenleiter eine „Kaskade von Waffeneinsätzen“ überhaupt erst in Gang gesetzt. Es hätte ihm klar gewesen sein müssen, dass alles „in tödlicher Gewalt enden würde“.

Spricht von „strukturellem Rassismus“: Nebenklage-Anwältin Lisa Grüter.

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Spricht von „strukturellem Rassismus“: Nebenklage-Anwältin Lisa Grüter. Foto: Andreas Buck / FUNKE Foto Services © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Das sieht im Groben auch die Staatsanwaltschaft so, die ihrerseits bereits zu Beginn der Woche für vier der Beamten, darunter den Schützen, Freispruch beantragte. Nur für den Einsatzleiter nicht, der mit zehn Monaten auf Bewährung bestraft werden soll. Der Tod von Mouhamed, bestätigt Anwältin Grüter, sei dem 56-Jährigen zuzurechnen.

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Von dem gleich nach dem Tod des Flüchtlings erhobenen Vorwurf, die Polizei habe rassistische Motive gehabt, weicht Lisa Grüter am Mittwoch nicht ab. Sie spricht von „rassistischen Stereotypen“, zitiert Studien, nach denen Polizisten schneller auf arabisch aussehende oder schwarze Menschen schössen. „Wäre die Geschichte genau so ausgegangen, wenn ein Weißer dort gesessen hätte?“

Angeklagte distanzieren sich „von allen Rassismusvorwürfen“

Dagegen hatten sich die Angeklagten von Anfang an verwahrt. Für „hochgradig gefährlich“ erklärt es der Verteidiger des Dienstgruppenleiters, „hier ein ausländerfeindliches Motiv hineinzuinterpretieren“. Diskriminiert worden seien die Beamten, das sieht auch die Staatsanwaltschaft so. „Es kam nicht auf die Hautfarbe an“, wiederholt Christoph Krekeler als Vertreter des 31-jährigen Schützen. Und auch die junge Polizistin will sich unter Tränen „von allen Rassismusvorwürfen distanzieren“.

Rechtsanwalt Christoph Krekeler verteidigt den Schützen. Das Foto zeigt ihn und seinen Mandanten beim Prozessauftakt vor einem Jahr.
Rechtsanwalt Christoph Krekeler verteidigt den Schützen. Das Foto zeigt ihn und seinen Mandanten beim Prozessauftakt vor einem Jahr. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

„Es war seine Funktion, die anderen zu sichern“

Klar ist für alle Verteidiger: Die Polizisten und Polizisten mussten reagieren. Ein Messer in der Hand sei immer brandgefährlich, sagt Michael Emde, egal, wie es gehalten werde. Hinterher könne sich „jeder juristische Überlegungen dazu ausdenken“, in der Situation selbst aber habe sein Mandant das Beste getan, was tun konnte. Die vier jüngeren Kollegen, argumentieren deren Anwälte, hätten allesamt die Anordnungen ihres langjährigen Chefs befolgt. „Es war seine Funktion, die anderen zu sichern“, sagt Christoph Krekeler über den Polizisten, der schließlich abdrückte. Die Rechtsanwälte sehen deshalb nur eine Möglichkeit für sämtliche Angeklagte: Freispruch.

Das Urteil wird die 39. große Strafkammer auf Donnerstag, 12. Dezember, um 13 Uhr sprechen. Zwei Tage später wollen Mouhameds Unterstützer vor dem Hauptbahnhof erneut demonstrieren. Wie auch immer der Prozess ausgeht, ist der Grund bereits festgelegt: „Gerechtigkeit für Mouhamed Dramé. Am 8.8.2022 von der Dortmunder Polizei ermordet.“

So berichteten wir über den Prozess