Dortmund. Fortsetzung im Prozess um den Tod von Mouhamed Dramé in Dortmund: Eine Beamtin beschreibt, wie sie den fatalen Polizeieinsatz erlebt hat.

„Das war ja nicht die Absicht von uns“, sagt die 31-jährige Polizistin, als sie nach den tödlichen Schüssen eines ihrer Kollegen auf Mouhamed Dramé gefragt wird. Ihre Einlassung war am Vortag des 5. Juni von ihrem Verteidiger angekündigt worden. Die beiden vorderen Reihen des Zuschauerbereichs in Saal 130 des Dortmunder Landgerichts sind fast vollständig besetzt – mitunter von Aktivisten, die während der Aussage der Polizistin immer wieder höhnisch kichern.

Die junge Frau wirkt angefasst, während sie den Ablauf des Einsatzes mehrfach schildern muss. Dieser scheint recht unübersichtlich: Man sei als Verstärkung hinzugerufen worden, zunächst aber am falschen Ort gewesen, über einen Zaun geklettert, dann wieder zurück. Sie und ihre Kollegen hätten sich dann erstmal hinter einem Stromkasten positioniert, um sich zu orientieren.

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Beamtin setzte Pfefferspray gegen Mouhamed Dramé ein

Dort habe sie dann per Funk den Befehl erhalten, vor den Stromkasten vorzurücken. Erst dann habe sie den an der Mauer kauernden Dramé erblickt, sagt: „Ich wusste, dass ein Messer im Spiel ist, aber ich meine, ich habe es nicht gesehen.“ Vom ebenfalls angeklagten Einsatzleiter habe sie dann die Anweisung bekommen, „dass ich vorrücken und die Person einpfeffern soll“. Ziel: „Dass er das Messer fallen lässt, sich in die Augen greift und dann überwältigt werden kann“, erklärt die Beamtin.

Man habe auf den Überraschungseffekt gesetzt, weshalb sie ohne vorherige Androhung aus drei bis vier Metern Entfernung in Höhe des Kopfes zielte: „Dann habe ich so lange gepfeffert, bis ich eine Reaktion bemerkt habe.“ Diese fiel jedoch anders aus als erwartet. Sie habe noch wahrgenommen, wie sich der 16-Jährige erhob und nach rechts auf eine Kollegin zugegangen sei. Dann habe es mehrmals geknallt. Dass das Schüsse aus der Maschinenpistole ihres Kollegen waren, habe sie erst realisiert, als über Funk ein Rettungswagen angefordert wurde.

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„Haben Sie mal darüber nachgedacht, sich dem Befehl zu widersetzen?“, provoziert einer der Nebenklagevertreter und bedrängt die Angeklagte so lange mit Suggestivfragen, bis ihr Tränen übers Gesicht laufen. Der Staatsanwalt stoppt das Verhör.

Anschließend wird eine Sozialarbeiterin aus der Wohngruppe Dramés in den Zeugenstand gerufen. Der Junge sei erst eine Woche dort gewesen, die Verständigung schwierig, da die Betreuer und Betreuerinnen kaum Französisch sprechen. Klar sei aber gewesen, dass der 16-Jährige unter Depressionen und einer Posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund seiner Fluchterfahrung litt. Er habe sich am Wochenende sogar selbst zur Klinik begeben, was sehr ungewöhnlich für Jugendliche sei. Statt Hilfe zu bekommen, sei er abgewiesen worden – was kurz vor dem schrecklichen Vorfall im Hof der Einrichtung auch Thema in der Teamsitzung des Personals gewesen sei.

Seit dem Frühjahr sind Sidy (l.) und Lassana Dramé (r., mit ihrem Dolmetscher) an jedem Prozesstag im Dortmunder Landgericht.
Seit dem Frühjahr sind Sidy (l.) und Lassana Dramé (r., mit ihrem Dolmetscher) an jedem Prozesstag im Dortmunder Landgericht. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Was geschah am 8. August 2022?

Der 16-jährige Mouhamed Dramé, ein unbegleiteter Flüchtling aus dem Senegal, wurde Opfer eines tödlichen Polizeieinsatzes. Der Jugendliche hatte sich am Tag zuvor in die Polizeiwache in der Nordstadt begeben und Suizidabsichten geäußert. Er wurde in einer Klinik psychiatrisch untersucht, dann jedoch in seine Wohneinrichtung zurückgeschickt.

In dieser Einrichtung zog er sich am 8. August 2022 mit einem Messer in eine Ecke des Hinterhofs zurück. Auf Ansprachen reagierte er nicht, Betreuer riefen die Polizei. Elf Polizistinnen und Polizisten erschienen vor Ort. Sie setzten zunächst Pfefferspray, dann Elektroschockgeräte (Taser) ein. Ein Beamter feuerte sechsmal mit einer Maschinenpistole auf den Jugendlichen. Fünf Projektile trafen Mouhamed Dramé. Nach und nach stellte sich heraus, dass die Polizei wohl die Lage ohne Not selbst eskalierte, anstatt dem Verzweifelten zu helfen.

Ein halbes Jahr danach erhob die Staatsanwaltschaft Dortmund Anklage gegen fünf der Beamten. Die Polizisten, die Taser und Reizgas einsetzten, werden der „gefährlichen Körperverletzung im Amt“ beschuldigt, der Einsatzleiter der Anstiftung zur Körperverletzung, dem MP-Schützen wird Totschlag vorgeworfen.

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