Dortmund. Nach tödlichen Schüssen auf den Flüchtling geht der Prozess zu Ende. Warum die Staatsanwaltschaft nur noch einen Beamten für schuldig hält.

Totschlag und Körperverletzung hat die Staatsanwaltschaft ihnen vorgeworfen und dass ihre Einsatzmittel „ungerechtfertigt“ und „rechtswidrig“ waren, allesamt. Diese Wörter fliegen auch an diesem 29. Prozesstag vor dem Dortmunder Landgericht wieder durch den Raum, wie Ohrfeigen für die fünf Polizistinnen und Polizisten, die hier seit einem Jahr sitzen. Angeklagt für den Tod des jungen Flüchtlings Mouhamed Dramé, getötet am 8. August 2022 durch Schüsse aus einer Polizeiwaffe. Die Nicht-Juristen im Saal haben sich längst verirrt in der Unzahl von Paragrafen im Schlussvortrag der Staatsanwältin – da horchen sie erstaunt auf: „... ist freizusprechen“, sagt Gülkiz Yazir da. Sie sagt es viermal.

Nur einer soll diesen Gerichtssaal nicht unbescholten verlassen, wenn es nach den Anklägern geht. Neben vier Polizisten, die keine Schuld treffe, obwohl sie mit Projektilen, Reizgas und Strom auf Mouhamed schossen, gibt es sehr wohl einen, den sie verurteilt sehen wollen, wenn auch nur zu zehn Monaten Freiheitsstrafe: den Dienstgruppenleiter. Jenen 56-Jährigen, der seine junge Truppe damals in den Einsatz schickte. Der sich aber „kein eigenes Bild“ der Lage gemacht habe, keine Alternativen bedacht, wohl aber den verhängnisvollen Befehl gegeben: „Vorrücken und einpfeffern, das volle Programm!“

Das gleiche Bild an jedem Prozesstag: Auch am 29. werden die fünf Angeklagten durch einen Hintereingang in den Saal geführt.
Das gleiche Bild an jedem Prozesstag: Auch am 29. werden die fünf Angeklagten durch einen Hintereingang in den Saal geführt. © dpa | Rolf Vennenbernd

Mouhamed suchte Hilfe in einer psychiatrischen Klinik

Dabei saß der Flüchtlingsjunge nach Überzeugung der Staatsanwälte ruhig mit einem Messer im Innenhof einer Jugendhilfe-Einrichtung, richtete die Klinge gegen sich selbst. Vorausgegangen war eine „Verkettung unglücklicher Umstände“. Die „schicksalhafte Diagnose“ einer Ärztin, die den psychisch angeschlagenen Jungen aus einer Klinik heimgeschickt hatte. Zurück in die Einrichtung, bei der Dombert mehrdeutig fragt: „Ist man der Fürsorge nachgekommen?“ Denn am Vortag noch hatte Mouhamed wegen seiner Suizidgedanken Hilfe gesucht: bei derselben Polizei, die ihn nun davon abhalten sollte, sich umzubringen.

Das sei auch das Ziel gewesen. Was aber folgte auf den Einsatzbefehl des Dienstgruppenchefs, war ein Dominoeffekt. Sekundengenau zeichnet Staatsanwalt Dombert nach, wie schnell alles ging, ohne dass man Mouhamed gewarnt hatte. Erst das angeordnete Pfefferspray brachte den Stein ins Rollen, aus der statischen Situation, in der der Flüchtling regungslos dasaß, war eine dynamische geworden, eins gab das andere: Spray, Tasereinsatz, Schüsse. Dazwischen das Opfer, das sich bewegte in die einzig mögliche Fluchtrichtung.

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Der Gruppenleiter habe „seine Planung einfach umgesetzt, ohne die Situation neu zu bewerten. Er hätte die Fehlerhaftigkeit seiner Prognose sehen müssen“. Eine Idee, wie man die Gewaltspirale hätte stoppen können, habe es nicht gegeben. Dass die Polizistinnen aber seine Befehle binnen Sekunden befolgten: Sie hatten keinen Grund, dem langjährigen Chef nicht zu vertrauen. Dass der 31-Jährige als Sicherungsschütze schließlich abdrückte: Er hatte „keine Zeit“ abzuwarten, keine Möglichkeit, seine Kollegin anders zu schützen. „Er konnte den Einsatzplan nicht absehen.“ Freispruch also, aber nicht wegen Notwehr, wie Prozessbeobachter seit längerem vermutet hatten.

Mehr zu den Schüssen auf Mouhamed Dramé

5000 Euro Geldzahlung fordert Gülkiz Yasir im Plädoyer für den ältesten Angeklagten, die Haftstrafe sei zur Bewährung auszusetzen – das alles wegen „Verleitung zu gefährlicher Körperverletzung im Amt“, ein Begriff aus dem Beamtenrecht. In der Anklage hieß das noch „Anstiftung“. Zudem stand dort noch nichts von fahrlässiger Tötung, dieser Vorwurf ist neu.

Sidy und Lassana Dramé (v.l.) sind seit Jahresbeginn in Dortmund, sie verfolgen den Prozess.
Sidy und Lassana Dramé (v.l.) sind seit Jahresbeginn in Dortmund, sie verfolgen den Prozess. © dpa | Federico Gambarini

Zuschauer stören mit „blödsinnigen Lachereien“

Noch ist es kein Urteil, es ist die Forderung der Ankläger. Aber die macht, dass Mouhameds Bruder Lanassa in seinen Pullover kriecht und der ältere Sidy unaufhörlich weint. Sie macht einmal mehr rote Flecken im Gesicht des 31-jährigen Polizisten, der vor bald zweieinhalb Jahren auf den Senegalesen schoss. Sie sorgt ansonsten für erstaunliche Stille im vollbesetzten Gerichtssaal, in dem zuvor erneut Besucher ermahnt werden mussten: Sie hatten den Vorsitzenden Thomas Kelm mit „blödsinnigen Lachereien“ geärgert.

Urteil soll am 12. Dezember fallen

Für die Nebenkläger ist das mehr als nichts. Immerhin gibt es so, erklärt ihre Anwältin Lisa Grüter später, einen Verantwortlichen für den Tod ihres Bruders. Wenn die 39. große Strafkammer dieser Sicht auf die Dinge folgt. Noch in dieser Woche sollen auch Nebenklage und Verteidiger ihre Schlussvorträge halten. Ein Urteil wird für den 12. Dezember erwartet.

So berichteten wir über den Prozess

>>INFO: ERNSTE WORTE DES STAATSANWALTS

„Hohes Gericht“, begann Oberstaatsanwalt Carsten Dombert am Montag sein Plädoyer, aber dann schaute er nicht zur Richterbank, sondern sprach mit dem Publikum, hinten im Saal. Der Ankläger wollte etwas loswerden, sich wehren gegen die „politische Ausschlachtung“ des Todes von Mouhamed Dramé, dessen Geschichte von Anfang an auch eine politische war. Von rechts wie links sei das versucht worden: Die einen hätten „verabscheuungswürdige Hinweise“ auf die Herkunft Dramés gegeben („Selber schuld, was läuft der auch mit einem Messer auf Polizisten zu“), die anderen 50.000 Polizisten in NRW als Rassisten diffamiert. Rassismus habe man bei den intensiven Ermittlungen indes ebensowenig feststellen können wie das Tatmerkmal der Notwehr.

Viermal Freispruch, einmal Schuldspruch: Oberstaatsanwalt Carsten Dombert.
Viermal Freispruch, einmal Schuldspruch: Oberstaatsanwalt Carsten Dombert. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Zudem sei ihm und der Justiz vorgeworfen worden, nicht objektiv zu sein. Das sei absolut falsch, vielmehr habe man „jeden Stein umgedreht“, um zu „erforschen, was sich tatsächlich zugetragen hat“. Auch die These, er habe nur auf Druck der Straße Anklage erhoben oder auf Anweisung der Politik, wies Dombert zurück. Die Beamten seien behandelt worden wie jeder andere Angeklagte auch. Der Oberstaatsanwalt zeigte Verständnis für die Proteste, die die Gerichtsverhandlung seit einem Jahr begleiten. Dennoch werde bei aller Forderung nach Gerechtigkeit das Urteil, das kommende Woche fällt, nicht jeder als gerecht empfinden.