Ruhrgebiet. Das neue Gesetz sollte Ermittlern und Gerichten Arbeit ersparen. Warum sie stattdessen Tausende von Taten neu bewerten müssen.
Richter und Staatsanwälte haben es geahnt: Das neue CanG, mit vollem Namen Konsumcannabisgesetz, im Volksmund auch Kiffergesetz, bringt Juristen zunächst statt Arbeitserleichterung das Gegenteil. Allein in NRW wurden spätestens seit dem ersten Geltungstag im April fast 87.000 Verfahren gesichtet und teils neu bewertet. Ein „Kraftakt“, klagt der Justizminister. Bei dem es nicht nur darum geht, ob Drogentäter plötzlich gar keine mehr sind: Der Gesetzgeber will sie grundsätzlich milder bestraft sehen.
Angenommen, es hat sich im Frühjahr einer mit 20 Gramm Cannabis in der Hosentasche erwischen lassen. Das ist viel: Es könnte reichen für an die 70 Joints, die einer unmöglich mal eben allein rauchen kann. Aber es ist seit dem 1. April 2024 nicht mehr verboten. Nun gilt: Jemand mit 20 Gramm muss so behandelt werden, als hätte es diesen Fall nie gegeben.
Ein Ermittlungsverfahren müsste also eingestellt werden, eine Fahndung zurückgenommen und einer, der womöglich in Haft saß, entlassen werden. Geregelt ist das im „Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB)“. Danach sind noch nicht vollstreckte Strafen zu erlassen, wenn die Taten gar nicht mehr strafbar sind. Der Bürger hat als unbescholten zu gelten. „Was nach dem neuen Gesetz straflos ist“, sagt Essens Landgerichtssprecher Thomas Kliegel, „muss korrigiert werden.“
Süßer Geruch in Amtsstuben: Beschlagnahmtes Marihuana wird abgeholt
Es ist seither schon vorgekommen, dass Gebäude von Staatsanwaltschaften und Polizeien durch intensiven Grasgeruch auffielen. In noch jungen, laufenden Verfahren und unter bestimmten juristischen Voraussetzungen dürfen Delinquenten, die keine mehr sind, ihre beschlagnahmten Marihuana-Mengen bis zu 25 Gramm aus den Asservatenkammern abholen.
In NRW war eine Straffreiheit laut Justizministerium bei bislang mehr als 9000 Verfahren gegeben. Allein im Generalstaatsanwaltschafts-Bezirk Hamm, zu dem etwa Dortmund, Bochum und Essen gehören, sind laut NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) rund 15.000 Haftbefehle überprüft worden, von denen etwa 180 aufgehoben und 45 angepasst wurden. „Außerdem wurden circa 50 Haftentlassungen veranlasst.“
Älteste überprüfte Akte in Bochum stammt von 2011
Die Staatsanwaltschaft Duisburg hat schon bis Mai fast 94 Verfahren zur Neufestsetzung von Strafen an die Gerichte übersandt und den Erlass von 225 Strafen erwirkt. Insgesamt fassten die Behörden im Land 86.737 Verfahren an, davon 67.400 allein in den Bezirken, die das Ruhrgebiet berühren – in Düsseldorf (mit Duisburg und Kleve) 28.621, in Hamm 38.779. Zusätzlich sah auch die Strafrechtsabteilung des Ministeriums 1200 Rechtshilfeverfahren durch.
Und das sind erst die Zahlen von Ende April. „Dies war“, sagt Limbach, „nur durch überobligatorischen Einsatz und unter Zurückstellung anderer Aufgaben der Strafverfolgung möglich.“ Vielerorts wurden die Betäubungsmittel-Abteilungen zeitweise aufgestockt. Die mussten vor allem alte Akten händisch durchsehen; am Landgericht Bochum stammt die älteste, die sie nun wieder hervorkramen mussten, von 2011. In einem Essener Fall hat das Amtsgericht Gelsenkirchen vor wenigen Wochen ein Verfahren wegen des Besitzes von Marihuana eingestellt – nach dem Angeschuldigten war seit Dezember 2021 vergeblich gefahndet worden.
Müssen alle Straftaten neu bewertet werden?
Dabei geht es gar nicht nur um Straffreiheit bei kleineren Drogendelikten, sondern auch um alle die, die wegen mehrerer Straftaten zu einer Gesamtstrafe verurteilt worden sind oder werden sollen. Möglich zum Beispiel, dass jemand 50-mal mit Kokain gehandelt hat und auch noch eine Waffe dabei hatte. Bei einer Wohnungsdurchsuchung hat man zudem noch 40 Gramm Marihuana gefunden. Hier täten wegen der Schwere der anderen Straftaten die nun erlaubten 40 Gramm nicht viel zur Sache, aber überprüft werden muss die Sache doch. Ist die Gesamtfreiheitsstrafe anders festzusetzen, ändert sich überhaupt etwas, fällt das ins Gewicht?
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Über etwaige Änderungen bei rechtskräftigen, aber noch nicht vollstreckten Strafen haben die erstinstanzlichen Kammern auf dem Beschlussweg zu entscheiden. Neu verhandeln müssen sie nicht; damit, sagt die Sprecherin des Bochumer Landgerichts Katja Nagel, würden die Belastungsgrenzen der Gerichte überschritten. Aber natürlich müssen auch so Betroffene und Verteidiger gefunden, informiert und angehört werden.
Auch für den Handel mit Cannabis: Strafrahmen hat sich nach unten verschoben
Aber auch die Prüfung solcher Altfälle ist immer noch nicht alles. Bei Einsicht ins CanG und Analyse des „Verkündungsblatts“ fiel Richtern auf, was der Bund bisher allenfalls leise kommuniziert hat: Nicht nur ein maßvoller Anbau und Besitz von Cannabis ist raus aus dem Betäubungsmittelgesetz. (Weshalb es nicht mehr reicht, wenn die Polizei einen Dealer mit Gras in der Tasche erwischt; sie müsste ihn auch beim Verkaufen beobachten.) Vielmehr wird auch das, was strafbar bleibt, weniger schwer geahndet. „Auch für das Handeltreiben“, sagt Katja Nagel, „hat sich der Strafrahmen erheblich nach unten verschoben.“
So sah der Gesetzgeber bis zum 31. März 2024 für jemanden, der mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge handelt und dabei eine Waffe dabei hat, eine Strafe von fünf bis 15 Jahren vor. Im neuen Gesetz steht auf dieselbe Tat (bei Cannabis) eine „Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren“. Bis zu drei Jahre könnte jemand bekommen, der mehr Cannabis besitzt als erlaubt oder es weiterverkauft; bis April galt eine Obergrenze von fünf Jahren. Das ist, sagt Richterin Nagel, „eine ordentliche Herabsetzung“.
Sie hatten am Landgericht einen Angeklagten, der 56 Gramm Cannabis besaß und dabei ein Messer in der Nähe hatte – davon blieben bei neuer Betrachtung sechs verbotene Gramm und statt einer Strafe ab fünf nur noch eine ab zwei Jahren übrig. Daraus folgt auch, dass deutlich mehr „leichtere“ Fälle künftig bei den Amtsgerichten landen werden.
Mildere Strafen für die organisierte Kriminalität?
Auch die Strafen für die Abgabe an Minderjährige oder für die Einfuhr von Cannabis aus dem Ausland wurden gesenkt. Und die für bandenmäßigen Handel. Mildere Strafen für die organisierte Kriminalität? Straftäter kennen das neue Gesetz natürlich auch. Was also wäre, würde eine Bande, die bisher mit Kokain auffiel, künftig auf Marihuana umsteigen, weil dann weniger zu befürchten ist? Dass man so, wie gewollt, den Schwarzmarkt austrocknen kann, wird in der Justiz eher skeptisch gesehen. Der Vorsitzende Richter Thomas Kliegel in Essen hält eine Anreizwirkung für Schwerverbrecher für möglich.
Was übrigens eine „nicht geringe“ Menge ist, war auch eine der offenen Fragen: Das hängt vom Wirkstoffgehalt der Drogen ab, bislang orientierten sich Gerichte in Deutschland an einem THC-Wert von 7,5 Gramm. „Ab dann wurde es ernst“, sagt Thomas Kliegel. In diesem Punkt hatte der Gesetzgeber nur angedeutet, die Grenzwerte könnten ebenfalls sinken, es gebe ja nun eine neue Risikobewertung des Stoffs. Der Bundesgerichtshof aber entschied schon im April: Die bisherigen Werte bleiben. Eine Erleichterung für die Strafkammern, die schon befürchteten, nicht einheitlich Recht sprechen zu können.
Aber es ist noch nicht vorbei: Viele Fälle liegen noch bei Anklägern und Gerichten; die Weiterbearbeitung, sagt der Justizminister, dauere an. Und eine neue Aufgabe stellt sich zu Jahresbeginn 2025: Ab dann dürfen Betroffene beantragen, dass ihre Verurteilungen wegen Cannabis aus ihrem Führungszeugnis gelöscht werden.