Ruhrgebiet. In NRW läuft wieder eine Verkehrszählung. Neben Kameras und moderner Technik machen das immer noch Menschen: im Klappstuhl am Straßenrand.

Das ist jetzt wirklich weder Zeit noch Ort für einen Gartenstuhl. Und doch sitzt dort einer in Sandalen, morgens um acht in einer endlosen Reihe parkender Autos, und 250 weitere sind in nur einer Stunde vorbeigefahren, Richtung Norden. Jörg Berenfänger weiß das, er hat sie gezählt: Es ist wieder Verkehrszählung in NRW, und der Dorstener ist einer von 306 Zählern im „Los 10, Ruhr“, die das noch in Handarbeit machen. Keine Kamera, kein Radar, keine Induktivschleife – nur Blick, Block und Bleistift.

Sie sind ein Jahr zu spät dran. 2020 schon hätte Straßen.NRW messen sollen, wie alle fünf Jahre: damit sie wissen beim Verkehrsministerium in Berlin, wie viele Autos, Laster, Räder am Tag so über Deutschlands Straßen fahren. Aber dann kam Corona. Und die Zahlen hätten nicht mehr gestimmt, im ersten Lockdown blieben die Menschen tatsächlich noch zuhause. „Wir hätten keine realistischen Ergebnisse gehabt“, sagt Kevin Hubert aus der „Landesmobilitätszentrale“.

Die Warnweste ist Pflicht: Jörg Berenfänger und Barbara Berenfänger-Butek verschaffen sich zwischen den parkenden Autos hindurch den Durchblick.
Die Warnweste ist Pflicht: Jörg Berenfänger und Barbara Berenfänger-Butek verschaffen sich zwischen den parkenden Autos hindurch den Durchblick. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Bottrop ist „entspannt“, in Herten oder Recklinghausen war mehr Verkehr

Also zählen sie ein Jahr später, es ist immer noch Lockdown, als sie anfangen im April, aber der Verkehr steht längst nicht mehr auf der Notbremse. Auswertungen der Bundesanstalt für Straßenwesen haben das ergeben, Barbara Berenfänger-Butek hat es auch schon gesehen: „Nie im Leben hätte ich vermutet, wie viel Schwerlastverkehr durch die Landschaft rollt.“ Und wie viel Autoverkehr durchs Grüne. In Recklinghausen, am Autobahnzubringer, in Kirchhellen, in Herten am Golfplatz: An die 900 Fahrzeuge hat sie dort gezählt!

Dagegen ist Bottrop entspannt. Dies ist Zählstelle 4407 2384, in gelben Ziffern aufgemalt auf dem Seitenstreifen, Osterfelder Straße, Landesstraße L511. Berenfängers sitzen irgendwo im Nirgendwo, hinter ihnen Wald, vor ihnen der Verkehr und eine ausgedruckte Tabelle: Hier führen sie Strichliste nach Kategorien vom Fahrrad (1) bis zum „Lkw über 3,5 Tonnen mit Anhänger“ (6). Den Zettel haben sie am Klemmbrett auf dem Schoß, dazu halten sie Kugelschreiber („vorher testen!“, hat man ihnen aufgeschrieben) und einen kleinen Handzähler. Eigentlich bräuchten sie drei Hände.

Fünf Stunden pro Tag, Termine werden festgelegt

Klick, jedes Auto wird gezählt. Um diese Zeit allerdings schon nicht mehr, um neun ist für den Vormittag Feierabend.
Klick, jedes Auto wird gezählt. Um diese Zeit allerdings schon nicht mehr, um neun ist für den Vormittag Feierabend. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„250 pro Stunde“, sagt Jörg Berenfänger, „nur Pkw.“ Und nur in eine Richtung. „Es war sehr, sehr ruhig.“ Lkws würde er sofort erkennen, der 64-Jährige war Berufskraftfahrer, seine Frau guckt ihnen vorsichtshalber hinterher: „Ob die Zwillingsreifen haben.“ Sie haben sich wieder fokussiert, Handy aus, heute von sieben bis neun und von 15 bis 18 Uhr, an zwei Wochentagen, zwei Freitagen, zwei Ferientagen, zwei Sonntagen. So ist das an „A-Zählstellen“, hier rollen mehr als 7000 Fahrzeuge in 24 Stunden vorbei – die „DTV“: durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke. B-Stellen haben weniger Verkehr und weniger Stunden.

641 solcher menschlicher Zähler koordiniert allein das Ingenieur-Büro Oerter aus Siegen für Straßen.NRW, und sie waren gar nicht leicht zu finden. Erstaunt hat man dort „festgestellt, es ist gar nicht einfach, an Leute zu kommen“. Ein bisschen hatte man auf jene gehofft, die wegen Corona auf der Straße standen, elf Euro die Stunde, immerhin – aber dann suchten die Studenten doch lieber dauerhafte Jobs. Bei Berenfängers hingegen war es genau so: er Rentner, sie in Kurzarbeit: „Wir machen das nicht aus Spaß, sondern um die Lücke auszugleichen.“

Der „Spaziermodus“ der Sonntagsfahrer ist ihr lieber

Aber nun macht es doch Spaß! Wie die Radfahrer winken. Wie die Lkw-Fahrer hupen. Und „total lustig, wie viele sich ertappt fühlen“. Wie viele in die Eisen gehen, übrigens „überwiegend Frauen mit dem Handy am Ohr“. Barbara Berenfänger-Butek darf das sagen, sie hat sie ja gezählt. Dabei ist sie nicht da, um Verkehrssünder aufzuspüren. Aber sie sieht sie doch. Und oft auch, wie Autofahrer „andere gefährden und die sich erschrecken“. Die 59-Jährige beobachtet das von Brücken aus, der „Spaziermodus“ der Sonntagsfahrer ist ihr lieber.

Dass es sowas aber überhaupt noch gibt! Menschen, die Autos zählen in Klappstühlen, in Zeiten der Digitalisierung. Tatsächlich „beschäftigt“ Straßen.NRW auch 180 Induktivschleifen in Fahrbahnen, die dauerhaft zählen, 304 Seitenradargeräte, die eingebaut sind in Leitpfosten und in kleinen Kästen an Laternenpfählen – und 82 Videokameras allein über das Büro Oerter im Ruhrgebiet. Die übrigens alle nur das Fahrzeug erfassen, nicht das Kennzeichen und nicht den Fahrer darin. An mehr als der Hälfte der 7.777 Zählstellen im Land wird automatisch gemessen, den Rest machen echte Menschen.

Mensch statt Maschine: Diese Zähler kann keiner klauen

Strichliste: In sechs Kategorien – plus zwei mit Anhänger – werden die Fahrzeuge erfasst.
Strichliste: In sechs Kategorien – plus zwei mit Anhänger – werden die Fahrzeuge erfasst. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Weil die sich Lücken suchen können zwischen Bäumen und an unübersichtlichen Stellen – und weil man sie nicht klauen kann wie eine Kamera. Sie können sie „hinsetzen“ im wahren Wortsinn an neuralgischen Stellen: auf den Weg zur Autobahn, ins Industriegebiet oder, ja wirklich, zum Fastfood-Restaurant. Auch fallen sie in der Regel nicht aus, jedenfalls nicht wegen der Technik. Einige wenige, deren Listen „nicht plausibel“ sind oder die bei gelegentlichen Rundfahrten nicht anwesend sind, werden wohl registriert.

Bis Oktober werden sie noch zählen, danach dauert es ein Jahr, bis alle Zahlen ausgewertet sind. Dann werden sie wissen bei den Behörden und in der Politik, ob der Schwerlastverkehr weiter zugenommen hat, ob eine Straße auszubauen ist oder eine andere zurückzubauen, und in dieser Zeit auch, was das Homeoffice für Auswirkungen hatte. Verkehrsplaner brauchen das Zahlenwerk, Umweltpolitiker, Bürgerinitiativen: für Lärmkarten, Unfallstatistik, Ampeln.

So lange müssen sich die Berenfängers noch ein paar Stunden konzentrieren: „Bitte“, steht auf einem Zettel, befestigt mit blauen Wäscheklammern am Gartenstuhl, „stören Sie das Zählpersonal NICHT während der Zählung.“

>>INFO: ZÄHLUNG AUS DEM JAHR 2020 VERSCHOBEN

Turnusgemäß wird der Verkehr alle fünf Jahre im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums gezählt. Durch die Pandemie hat sich die Zählung diesmal um ein Jahr verschoben. Die Ergebnisse sollen im Herbst 2022 vorliegen und sollen Trends in der Verkehrsentwicklung abbilden. Die Statistiken sind Grundlage für Verkehrsplanung und politische Debatten.

In Nordrhein-Westfalen stemmt die Landesmobilitätszentrale von Straßen.NRW in Leverkusen die Zählung. Sie beauftragt Ingenieurbüros damit. Insgesamt wird an 7.777 Zählstellen im Land gemessen: 4.085 an Landesstraßen, 2.029 an Kreisstraßen, 1611 an Bundesstraßen und 52 an besonders belasteten Gemeindestraßen.