Bochum. . Margarete R. aus Bochum hat Hilfe beantragt. Die Kasse hat vorerst abgelehnt. Nun kann die 94-Jährige nur noch einmal die Woche duschen. Und sie fühlt sich in ihrer Würde verletzt. In unserem Gesundheitssystem, scheint es, kann man ihr nicht helfen.
Margarete R. hat ein heikles Problem. Die 94-Jährige aus Bochum kommt nicht mehr allein in ihre Dusche. Und wer den 45 Zentimeter hohen Einstieg sieht, dazu verstellt durch das viel zu eng gesetzte Klosett, der versteht das auch gleich. Die Pflegerin Sonja Krause jedenfalls hat es geblickt, darum hat sie Frau R. empfohlen, eine Pflegestufe zu beantragen. Auch die Gutachterin, die über die Pflegestufe entscheidet, hat wohl die Lage erkannt. Sonst hätte sie nicht so erschrocken geschaut und „Hui!“ gemacht. Aber eine Pflegestufe hat Frau R. darum noch lange nicht bekommen – in unserem Gesundheitssystem, scheint es, kann man ihr nicht helfen.
15,99 Euro. Soviel kostet einmal Duschen, wenn man dafür einen Pflegedienst benötigt. Die Krankenkasse bezahlt zwar Sonja Krause, damit sie Margarete R. in ihre Kompressionsstrümpfe hilft. Duschen aber ist keine medizinische Notwendigkeit. Damit hat die Krankenkasse nichts zu tun, Duschen ist ein Fall für die Pflegekasse. Die aber kennt nur Stufe oder nicht Stufe, keine „niedrigschwelligen“ Hilfen davor. Also musste Margarete R. monatelang selbst zahlen, bis sie sich zu dem Antrag durchrang.
Die Pflegerin wäscht ihr den Rücken und die Beine, trocknet sie ab, hilft beim Anziehen. So nackt im doppelten Sinn möchte man sich nicht den eigenen Kindern präsentieren. In der Erwartung, dass man ihr die Pflegestufe bewilligen würde, hat sich die 94-Jährige auch mal zwei Duschen die Woche gegönnt – mit ihrer Witwenrente von 957 Euro ist das nicht dauerhaft machbar. Doch die Knappschaft lehnte im Mai ihren Antrag ab. Seitdem duscht Margarethe R. nur noch einmal die Woche. Zweimal ist Luxus. Und ansonsten: Waschlappen.
Solange man sich selbst den Po abputzen kann ...
Die Ablehnung hat wehgetan. Margarete R., muss man sagen, wirkt mit ihren 94 Jahre noch ziemlich rüstig. Zumindest wenn sie sich entrüstet. „Um es brutal auszudrücken: Solange man sich noch selbst den Po sauber machen kann, gibt es keine Pflegestufe.“ Unabhängig davon, ob Frau R. nun einen Anspruch auf eine Pflegestufe hat oder nicht, geht es ihr um das Gefühl, das nach dem Besuch der Gutachterin zurückgeblieben ist. „Im Grunde werden Sie bestraft, wenn Sie als alter Mensch sich Mühe geben, ihre Selbstständigkeit zu erhalten.“
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Es geht um Minuten, wenn der Gutachter kommt. Für beide Seiten. Der Gutachter hat zwar keine Zeitvorgabe. Aber fünf Fälle täglich sind üblich. Wenn man noch Anfahrt und Papierkram abzieht, bleiben 45 Minuten beim Menschen, um den es geht. Wenn es hoch kommt.
Pflegestufen - der Ermessensspielraum ist enorm
45 Minuten. Soviel muss auch bei Margarete R. unterm Strich rauskommen, damit sie die erste Pflegestufe erreicht. Die Gutachterin ging also mit ihr eine Liste durch: Wie viel Minuten Hilfe benötigt Frau R., um ihr Wasser zu lassen? Sie kann noch alleine zur Toilette gehen. Um sich anzukleiden und auszuziehen? Zwölf Minuten. Um zu duschen? Vier Minuten täglich ist die Antwort. Die Rechnung geht so: zwei Duschen die Woche à 14 Minuten durch sieben Tage. Und hier steckt die Ungerechtigkeit im Detail.
Einerseits gaukelt die Minutenzählerei Objektivität vor. Andererseits ist der Ermessensspielraum der Gutachter enorm. Er kann 14 oder auch 20 Minuten pro Dusche ansetzen. Und hätte Margarethe R. zuvor siebenmal in der Woche geduscht, hätte die Gutachterin das auch so aufgeschrieben. „Die Leute, die schon viel bestellen, haben eine bessere Chance“, erklärt ein Gutachter und Arzt aus dem Ruhrgebiet, der nicht namentlich genannt werden will. Wer hat, dem wird gegeben. „Aber natürlich habe ich als Gutachter die Freiheit zu sagen: Das ist defizitäre Pflege. Angemessen wären eine Dusche und eine Teilwäsche pro Tag.“
„Du hättest dich dumm und doof stellen müssen“
Weil den meisten Menschen diese von Bürokratie notdürftig verdeckte Willkür auch bewusst ist, sitzen nun die Nachbarinnen um Margarete R. herum, und die eine sagt: „Du hast ‘nen Fehler gemacht. Wir haben doch mehr als genug im Bekanntenkreis, die das mit Ach und Krach hinter sich gebracht haben.“
„Normal hätteste die Tür nicht aufmachen dürfen“, sagt die andere. „Du hättest dich dumm und doof stellen müssen.“ Alle nicken.
Das ist aber nun gar nicht die Art von Margarete R. Natürlich hat sie das Gefühl, einen Anspruch zu haben auf Hilfe. „Aber ich habe der Gutachterin klipp und klar erklärt, dass es mir um das Duschen geht.“
Da drehen wir uns nun im Kreis. Es gibt nur Pflegestufe ja oder nein.
Beratung fand nicht statt
„Wenn Sie Fragen haben, rufen Sie uns einfach an. Wir beraten Sie gerne.“ Das stand in der Ablehnung. Bevor Margarethe R. also am 7. Mai Einspruch einlegte, hat sie angerufen bei der Knappschaft. „Ich war derart aufgeregt, ich habe geheult.“ Die Bearbeiterin war nicht da. Die Stellvertreterin sagte immer wieder: „Beruhigen Sie sich.“ Sie könne da auch nichts machen ... Es kam kein Rückruf. Auch die Gutachterin hat Frau R. nicht beraten.
Schwierige Altenpflege
Die Knappschaft reagierte auf ihren Widerspruch mit einem Fragebogen. Dem Pflegetagebuch.
14 Tage lang sollte Margarete R. hier wieder die Minuten zählen. „Wir haben den Krieg hinter uns. Bombennächte. Die Flucht. Sind durch die brennenden Straßen von Leipzig gelaufen. Wir haben gehungert – und dann wird unserer Generation so ein Papierkrieg zugemutet. Ich soll aufschreiben, wie oft ich zum Klo muss. Und wie lange es dauert.“
„Diese Zettel sind diskriminierend“
Margarete R. hat die Formulare nur teilweise ausgefüllt. „Mir war flau, ich lag lange im Bett. Ich habe das angekreuzt – und darüber geschrieben: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und dass diese Zettel diskriminierend und deprimierend sind für alte Leute.“
Das Leben fühlt sich ja ohnehin immer mehr an wie ein Kampf. Um die Pflegestufe, um die Würde, ums Überleben. Margarete R. kann zwar noch Einkaufen gehen mit Begleitung. Aber voriges Jahr wäre sie auch fast verblutet, als eine Krampfader geplatzt ist. Eine Nachbarin hat sie gefunden.
„Worum es wirklich geht, um den Kern der Sache, das spielt keine Rolle – das ist es, was mich aufregt.“ Der Kern, das ist ihre Dusche in der Sozialwohnung, in der sie seit 20 Jahren wohnt. Und dass sie die Beine nicht mehr hoch kriegt. Neulich ist eine zweite Gutachterin gekommen. Die 94-Jährige wartet nun auf den Brief. Sie sagt: „Wenn es wieder nicht klappt, schmeiß ich das hin.“
Was ist die Alternative zum bisherigen System der Begutachtung?
Ist es notwendig für die Einschätzung des Pflegebedarfs, die Menschen zu fragen, wie lange sie für den Stuhlgang brauchen?
„Das Begutachtungssystem ist wissenschaftlich nicht haltbar und stimmt oft nicht mit den Bedürfnissen der Menschen überein“, sagt Prof. Christel Bienstein, die das Institut für Pflegewissenschaft an der Uni Witten/Herdecke leitet. „Viele fallen durchs Gitter. Gerade die, die noch rüstig wirken, denen aber vielleicht die Orientierung fehlt.“
Alte Menschen haben oft den Eindruck, dass eine halbe oder dreiviertel Stunde nicht ausreiche, sie zu beurteilen. Das glaubt auch Pflegerin Sonja Krause aus Dortmund: „Bei älteren Menschen wechselt die Form ja heftig von Tag zu Tag. Und am Abend haben sie alle dicke Beine.“ Diesen Praxiseindruck bestätigt auch Prof. Christel Bienstein. „Die Begutachtung ist nicht sehr tiefgreifend.“ Noch etwas spricht gegen die Objektivität des Systems. „Studien haben ergeben“, sagt Bienstein, „wenn eine Tochter oder ein Sohn sich schlau machen, oder wenn ein Pflegedienst sich engagiert, kommen die Antragsteller viel öfter an die Pflegestufe.“
Tatsächlich hat das Bundesgesundheitsministerium schon Ende 2006 den Auftrag vergeben, einen neuen Begriff von Pflegebedürftigkeit und ein neues Begutachtungsverfahren zu entwickeln. Was die Uni Bielefeld auch tat. Das „Neue Begutachtungsassessment“ soll Betroffenen wie Margarete R. erlauben, ihre Würde zu behalten. Bienstein: „Es wurde in Zusammenarbeit mit dem Medizinischen Dienst getestet, es hat sich bewährt.“ Der Haken: „Wir hätten dann 1,5 Millionen mehr Pflegebedürftige.“
Alles von vorn?
Wohl auch deshalb hat im Frühjahr Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) einen neuen Pflegebeirat eingesetzt, der wieder Vorschläge für den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff erarbeiten soll. Und für die Begutachtung. Alles von vorn?
Der Präsident des Deutschen Pflegerats, Andreas Westerfellhaus, rechnet schon jetzt mit dem Scheitern des Gremiums. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Pflegebeirat zu konkreten Ergebnissen kommt, schon gar nicht vor der Bundestagswahl. Derzeit kommen mir die Sitzungen wie Alibiveranstaltungen vor“, sagte Westerfellhaus der WAZ. „Wenn der neue Pflegebegriff in dieser Legislaturperiode nicht zukunftsfest definiert wird, ist die gesamte Pflegereform der Bundesregierung gescheitert.“ (Thomas Mader/Daniel Freudenreich)