Duisburg. Carsten W., der Mann, der dafür sorgen sollte, dass die Menschenmassen gefahrlos das Gelände zur Loveparade betreten konnten, erzählte den Ermittlern, wie es vor seinen Augen zur Katastrophe in Duisburg kommen konnte. Die Protokolle der Zeugenaussagen, Akten und Einsatzberichte zeigen: Wohl keiner der Beteiligten ist ohne Schuld.
Die Nacht lag schon tief über dem Gelände der Loveparade, an jenem 24. Juli 2010 um 23:30 Uhr. Unter dem Licht der Scheinwerfer sicherten Ermittlungsbeamte die Spuren der Opfer, der 21 Toten. Weiße Kreidestriche auf Beton, Plastikmüll und leere Wasserflaschen. Ein paar hundert Meter weiter betrat Carsten W. das Hoist Haus gegenüber des Duisburger Bahnhofs. Carsten W. war Crowd-Manager der Loveparade. Er sollte dafür sorgen, dass die Menschenmassen gefahrlos das Gelände der Loveparade betreten konnten. Im Hoist Haus wurde Carsten W. in einen Raum geführt. Hier saßen Rainer Schaller, der Chef der Loveparade, sein Pressesprecher, sein Marketing-Chef und zwei Frauen. Die Anwesenden waren deprimiert, geschockt, niedergeschlagen, berichtet Carsten W. später. Er sollte erzählen, was er erlebt hatte. Eine der Frauen protokollierte alles.
Carsten W. stand direkt an der Rampe, als die Katastrophe passierte. Nur wenige Meter von ihm entfernt starben Menschen. Er selbst war gesichert durch einen Zaun. An dem Mädchen bewusstlos zu Boden sanken. Nur Schritte entfernt. Nach seinem Bericht konnte Carsten W. erst einmal gehen.
Gut einen Tag später hatten Schaller und Freunde dann eine Idee, zu der sie Carsten W. brauchten. Sie riefen ihn an. Der Crowd-Manager sollte bei einer Pressekampagne helfen, um die Schuld an der Katastrophe der Polizei in NRW in die Schuhe schieben. Das sagte Carsten W. später vor Ermittlern aus.
Die Schlammschlacht um die Loveparade hatte begonnen.
Keiner der Beteiligten will Verantwortung übernehmen
Das Folgende ist schnell erzählt: Die Loveparade-Macher warfen der Polizei gemeinsam mit der Stadt Duisburg vor, durch Fehlentscheidungen und mangelhaften Einsatz die Katastrophe verursacht zu haben. Auf der anderen Seite griff Innenminister Ralf Jäger, Duisburgs SPD-Chef, die lokale Stadtspitze und die Loveparade-Macher an: Falsche Genehmigungen, fehlerhafte Pläne und zu wenig Personal hätten die Katastrophe unausweichlich gemacht. Keiner der Beteiligten übernimmt bisher Verantwortung.
Die Staatsanwaltschaft Duisburg ermittelt seit anderthalb Jahren. Aktuell gegen 17 Personen, elf Personen aus der Stadtverwaltung, fünf vom Veranstalter der Loveparade sowie gegen den Einsatzleiter der Polizei, Kuno S.. Ob und wann Anklage erhoben wird, ist noch offen.
Heute erlauben zum ersten Mal Unterlagen, die der WAZ vorliegen, einen annähernd klaren Blick auf die Katastrophe. Die protokollierten Zeugenaussagen, Einsatzberichte, städtischen E-Mails und Vermerke zeigen, dass niemand, der an der Loveparade beteiligt war, ganz ohne Schuld ist.
Da ist die Stadt: An ihrer Spitze Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU). Seine Behörde wollte unbedingt das Mega-Event haben. Mitarbeiter seines Amtes sorgten für die Finanzierung des Spektakels.
Damit nicht genug: So erklärte die zuständige Mitarbeiterin Anja G. in einer E-Mail am 11. Mai 2010, Stadtbaurat Jürgen Dressler und Duisburgs Rechtsdezernent Wolfgang Rabe hätten sich darauf verständigt, alles vom Betreiber der Loveparade einzufordern, was dieser gesetzlich bringen muss, um die Party durchzuführen. So sollten die Akten sauber bleiben. Und weiter schreibt Frau G. „Dafür wären wir dann aber am Tag nicht da, um das zu kontrollieren.“
Sprich: Die Spitze der Stadt hat sich darauf geeinigt, am Tag der Loveparade wegzuschauen, um das Event nicht abblasen zu müssen. Ihr Ziel war es nur, die Papiere im Amt sauber zu halten.
Keine Lautsprecher, mieses Material und zu wenig Leute
Hätten die Beamten kontrolliert, hätten sie genug gefunden, um einen Abbruch der Party zu rechtfertigen.
In seiner fast 200 Seiten starken Aussage vor den Duisburger Ermittlern, eine Art Geständnis, berichtet Crowd-Manager Carsten W. unter anderem von den mangelhaften Vorbereitungen der Loveparade-Veranstalter unter ihrem Chef Rainer Schaller. Versprochene Überwachungskameras im Eingangsbereich waren nicht montiert, die Zäune Billigware, zudem wären die versprochenen sicheren Zugangswege für Hilfskräfte quer durch die Tunnel nicht aufgebaut worden. Warum? Carsten W. sagt, weil das zu teuer gewesen wären. Die Loveparade hätten wohl an den Zäunen gespart.
Noch nicht einmal ein Lautsprechersystem hätten die Veranstalter installiert, berichtet Carsten W. den Ermittlern. Stattdessen hätte er privat ein Megafon mitgebracht, um die Massen im Panikfall zu lenken. Ein zweites Megafon sei ihm von der Loveparade-Spitze verweigert worden. Im Brandschutzkonzept hatte die Loveparade-Führung ein Lautsprechersystem zur Paniksteuerung zugesagt.
Vier Ordner werden für Oliver Pocher abgezogen
Auch beim Personal berichtet der Crowd-Manager von Problemen. So habe es nicht genug Ordner gegeben, um die Einlass-Schleusen zur Loveparade ernsthaft zu sperren. Er selbst habe gesagt, es gebe nicht genügend Männer um die geplanten Schleusen zu besetzen, doch anstatt mehr Leute zu schicken, habe die Loveparade-Führung die Zahl der Einlass-Stellen kurzfristig reduziert. Carsten W. sagt, ihm sei klar gewesen, dass er nur mit Hilfe der Polizei Sperren durchsetzen konnte.
Auch auf der Rampe war das Bild nicht besser. Crowd-Manager Carsten W. berichtet, nur acht Ordner seien als so genannte Pusher eingeteilt gewesen, um Tausende Menschen von der Rampe auf den Platz zu schieben. Dann hätten vier der Pusher zum Personenschutz von Oliver Pocher abgestellt werden müssen. Diese seien dann zwar von anderen Ordnern ersetzt worden. Doch wo genau sich diese Pusher am Ende aufhielten, konnte Carsten W. den Ermittlern kaum schlüssig erklären. Die Polizei spricht zwischenzeitlich von nur zwei Pushern, die auf der Rampe waren.
In ihrem Bemühen, die Polizei für die Katastrophe verantwortlich zu machen, hatten die Loveparade-Macher um Schaller eine Internetseite geschaltet, in der sie Filme und Dokumente zur Parade veröffentlicht haben. Die Unterlagen sollten beweisen, dass die Macher der Loveparade alles richtig gemacht haben. Und dass nur die Polizei schuld sei. Die Seite ist wieder aus dem Netz verschwunden.
Carsten W. schrieb in einer Email an einen Geschäftspartner wenige Tage nach der Katastrophe: „Wenn ich noch einmal größere Veranstaltungen als Sicherheitsverantwortlicher leite, mache ich das nur mit einem vernünftigen Konzept. Das heißt: vernünftiges Sperrmaterial und ausreichend guter Personal. Das wird Geld kosten.“
Der Chef der Loveparade, Rainer Schaller, nahm auf Anfrage keine Stellung zu den Vorwürfen.
Doch auch die Polizeiführung hat ihren Anteil an der Katastrophe.
Da ist die Sache mit der Ablösung der Einsatzkräfte im Eingangsbereich der Loveparade. Eigentlich wollten die Planer der Polizei die Mannschaften zum Schutz der Veranstaltung vom frühen Morgen bis tief in die Nacht durcharbeiten lassen. Doch das verhinderte das Innenministerium. Mit dem Erlass Nummer 41.2-60.11.01 ordnete die Behörde an, dass die Kräfte höchstens zwölf Stunden arbeiten dürfen, inklusive An- und Abreise. Angeb-lich geschah dies auf Wunsch des Personalrates der Polizei.
Protest der Einsatzleiter
Die Einsatzführer der Polizei begehrten gegen den Erlass auf, mehrere remonstrierten bei ihren Vorgesetzten mündlich. Eine Remonstration ist eines der schärfsten Mittel, die das Beamtenrecht kennt, um gegen Weisungen von oben zu protestieren. Allerdings machen Beamte nur selten von diesem Recht Gebrauch, da sie befürchten, als Querulanten abgestempelt zu werden.
Der wichtigste Abschnittsführer legte dennoch seinen Protest am 24. Juni 2010 schriftlich vor. Insbesondere im Karl-Lehr-Tunnel könne es zwischen 15 und 18 Uhr zu kritischen Situationen kommen, bei der die Polizei voll einsatzfähig sein müsse. „Bei einer Ablösung um 16 Uhr fällt in diesen Zeitraum die Wechselzeit und damit die Zeit, in der die Polizei nur eingeschränkt handlungsfähig wäre.“
Doch der Protest findet keinen Widerhall. Der Spitzenbeamte R. aus dem Innenministerium setzte den Wechselerlass gegen alle Widerstände durch. Den Polizisten blieb nur übrig, sich selbst zu helfen und den angeordneten Wechsel so früh wie möglich durchzuziehen, um zur kritischen Einsatzzeit hoffentlich voll einsatzfähig zu sein.
Doch das misslang offenbar. Als das Ordnerkonzept der Loveparade-Macher versagte, war die Polizei nicht in der Lage, die Sperrung der Eingänge durchzusetzen. Auch die Polizeiketten im Tunnel konnten den Druck der Massen nicht aufhalten. Sie wurden überrannt.
Wegen der laufenden Ermittlungen wollte sich das Ministerium nicht zu den Remonstrationen der Beamten äußern.
Doch nicht nur bei der Planung machte die Polizeiführung eine schlechte Figur. Zeugen vermitteln den Eindruck, am Tag des Unglücks sei es in der Einsatzzentrale der Polizei zugegangen wie in einem Taubenschlag. Von mindestens drei Besuchergruppen ist die Rede, die in der kritischen Zeit zwischen 14.30 Uhr und 16 Uhr in der Stabsstelle aufmarschierten.
Minister lässt sich im Krisenstab blicken
Hohe Mitarbeiter des Innenministeriums ließen sich von den Einsatzführern die Lage schildern. Dann kam ein Vertreter des Personalrates. Schließlich Innenminister Ralf Jäger (SPD) samt Begleitung. Er sprach mit dem Polizeiführer Kuno S. und dessen Stellvertreter Jörg S.. Der Minister hatte im Raum der Einsatzführung genügend Zeit für ein Erinnerungsfoto mit einem Beamten. Kurz vor 16 Uhr verließ er die Stabsstelle wieder.
Eine Zeugin berichtete später den Ermittlern, schon zur Zeit der Besuche sei klar gewesen, dass sich die Situation auf den Zuwegen der Loveparade zuspitzte. Doch Kuno S. und Jörg S. wären nicht auf ihren Plätzen geblieben, sondern hätten sich um die Besucher gekümmert. Ein Beamter habe immer neue Meldungen in den Raum gerufen, dass sich im Westen die Massen stauten. Doch der Beamte habe nicht ausreichend Gehör gefunden. Die Zeugin sagte, zeitweise seien weder Kuno S. noch Jörg S. ansprechbar gewesen.
Jörg S. bestreitet in seiner Aussage den Eindruck der Zeugin. Sowohl er selbst als auch Kuno S. seien immer ansprechbar gewesen. Auch hätten die Besucher nicht über Gebühr gestört. Das Innenministerium verwies nach Anfrage auf eine Aussage des Ministeriums vor dem Landtag NRW aus dem August 2010. Demnach seien an den Minister bei seinem Besuch des Stabes keine Informationen oder „sonstige Hinweise“ herangetragen worden, „dass sich ein problematischer Einsatzverlauf abzeichnet.“
Nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft hätte Kuno S. das drohende Unglück erkennen müssen. Spätestens gegen 15.40 Uhr hätte er deswegen Verstärkungen zu den Einsatzbeamten in das T-Stück an der Rampe und in die Eingangsbereiche der Loveparade schicken müssen, damit diesen Kräften das Unheil vielleicht noch abwenden zu können. Er tat es nicht.