Ruhrgebiet. Nehmen Messertaten zu? Seit offenbar ein Kind in Dortmund einen Mann erstach, wird wieder debattiert. Die Statistik schweigt – noch.

Duisburg: Messerangriff auf zwei Kinder. Gelsenkirchen: Messerüberfall auf ein Restaurant. Essen: Messerdrohung auf dem Parkplatz. Oberhausen: Messerstiche gegen zwei junge Ukrainer, beide sterben. Und Dortmund: Messerattacke auf einen Obdachlosen, der Mann ist tot. Das Messer als Waffe steht in den vergangenen Wochen immer wieder in den Schlagzeilen, nicht nur im Ruhrgebiet – und das, während gleichzeitig die Zahl der Gewalttaten steigt. Nicht nur gefühlt, auch tatsächlich, sagen Ermittler, wird das „Tatmittel Messer“ häufiger und schneller gezogen. Aber warum steckt es überhaupt in der Tasche?

Das Messer als Waffe ist billig, unauffällig – und lebensgefährlich. Angriffe enden oft mit schweren Verletzungen oder gar dem Tod des Opfers, wie jetzt in Dortmund, wo offenbar ein Kind zustach. Von „Vehemenz“ spricht der NRW-Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Michael Mertens. Kollegen versicherten ihm „glaubhaft“, dass Messertaten „tatsächlich immer mehr“ würden – und das überwiegend bei männlichen Jugendlichen und jungen Männern. „Bei Konflikten und körperlichen Auseinandersetzungen wird das Messer häufiger eingesetzt.“

Ermittler: Jungen Leuten fehlt die Fähigkeit, Konflikte auszuhalten

Das kommt, vermutet Mertens, auch dadurch, dass viele es verlernt oder gar nicht erst gelernt hätten, „Konflikte mit Worten zu lösen“. Solche Menschen neigten im Streitfall schneller dazu, Waffen einzusetzen. Ein Ermittler aus dem Ruhrgebiet bestätigt das im Gespräch mit dieser Zeitung: Er beobachte nicht nur bei jungen Menschen eine fehlende Fähigkeit, Konflikte zu ertragen oder Nachteile auszuhalten. Überdies sei die Hemmschwelle gesunken: „Vielleicht hatten manche früher auch schon ein Messer dabei, aber die haben nicht zugestochen.“

Kontrolle in der Waffenverbotszone: Die Bundespolizei kann jedesmal diverse Messer sicherstellen.
Kontrolle in der Waffenverbotszone: Die Bundespolizei kann jedesmal diverse Messer sicherstellen. © Imago/Blaulicht News | IMAGO/Blaulicht-News.de

Der mutmaßliche Täter von Dortmund war 13, die von Oberhausen waren 14 und 15. Der Kripomann beobachtet das Mitführen von Messern bereits bei Kindern ab zwölf Jahren, „die Altersentwicklung nach unten ist erschreckend“. Warum? Die Polizei kann das nur vermuten. Ein Messer in der Tasche zu haben, sagt Mertens, sei heute „angesagt und schick“ – und wenn jemand meine, eines bei sich tragen zu müssen, täten andere es ihm nach. „So schaukeln sich die Ereignisse hoch, und das große Drama ist vorprogrammiert.“ Denn wenn einer erst ein Messer dabei hat, steige die Gefahr: „Was in der Hosentasche ist, ist auch schnell in der Hand.“

Entschuldigung: „Ich brauche das Messer, um mich zu verteidigen“

Auch sein Kollege aus Oberhausen sieht einen gewissen Gruppenzwang, wie oft hat er diese Entschuldigung gehört: „Ich brauche das Messer, um mich zu verteidigen.“ Das klingt nach der Kriegslogik einer vermeintlichen Waffengleichheit. Oder es ist so: „Es geht darum, stärker zu sein.“ Erst am Montagabend erwischte die Polizei am Hauptbahnhof Gelsenkirchen einen jungen Mann mit einem verbotenen Springmesser in der Tasche. Die Frage nach dem Warum beantwortete der 18-Jährige so: Heutzutage müsse man eines dabeihaben. Je „normaler“ das werde, sagt der Beamte, desto mehr stiegen die Zahlen.

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Ein Messer zu besorgen, das kann jedes Kind, einfacher jedenfalls als eine Schusswaffe. Vielfach verhindere das Elternhaus das nicht einmal, ahnt der Ermittler: Mancher Nachwuchs werde eher gar nicht, anderer „über“-erzogen, nach dem Motto: „Mein Sohn darf alles.“ Die Steigerung der Messertaten sei, sagt GdP-Chef Mertens, „keine Frage der nationalen Herkunft, sondern des Umfelds, in dem man groß wird“.

Sieht man hier die viel beklagte Verrohung der Gesellschaft? Derjenige, „der heute zusticht“, vermutet der Kripomann aus dem Revier, „hat vielleicht früher vielleicht auch schon zugetreten“. Und setze das Messer nun „sehr kompromisslos“ ein: „Wenn es länger wäre, würde es noch tiefer in den Körper eindringen. Sehr erschreckend.“

Mehr Gewalttaten, mehr Ausländerkriminalität, mehr kriminelle Jugendliche: Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) erklärt die Statistik.
Mehr Gewalttaten, mehr Ausländerkriminalität, mehr kriminelle Jugendliche: Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) erklärt die Statistik. © DPA Images | Oliver Berg

Messertaten gingen in der Corona-Zeit zurück

Insgesamt steigt die Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen, wie die aktuelle Polizeiliche Kriminalstatistik sagt. 2023 ist die Zahl der jungen Straftäter in NRW um fast ein Fünftel angewachsen, auch im Bereich der Gewaltdelikte nahm sie landesweit zu. Und auch die Messertaten werden mehr, und das nicht mehr nur „gefühlt“, wie es vor Jahren noch diskutiert wurde. Man könne das „Gefühl“, sagt GdP-Chef Mertens, inzwischen „versachlichen“: Seit 2019 weist das Innenministerium von Herbert Reul (CDU) Straftaten mit dem „Tatmittel Messer“ gesondert aus. Er reagierte damit auf die öffentliche Debatte: Man brauche Fakten statt Spekulationen. Auch Gewerkschaftsmann Mertens sagt: „Man muss das Thema benennen.“

Im ersten Berichtsjahr zählte das Landeskriminalamt 5780 solcher Straftaten, 2020 waren es 4669, 2021 mit 4397 nur etwas weniger. 30 Menschen, beklagte Innenminister Reul damals, hätten so „ihr Leben verloren“. Bei den Tatverdächtigen seien neun von zehn Männer und mehr als jeder zweite unter 30 Jahre alt. „Messer-Straftaten sind also ein männliches, junges Problem“, so Reul, „und eines, bei dem die Tatverdächtigen überproportional nichtdeutsch sind.“

Für 2022 stehen noch 4191 Messertaten in der Statistik. Sie gingen damit kontinuierlich zurück und mit ihnen die Zahl der verletzten Opfer. Denn als Messertat wird nur gewertet, wenn die Waffe mindestens als Drohmittel eingesetzt wird. Trägt jemand ein verbotenes Exemplar in der Tasche, ist das ein Verstoß gegen das Waffengesetz. Der Bund rechnet im übrigen anders: Für ganz Deutschland werden die tatsächlichen Messerangriffe erhoben.

Dortmund vergangene Woche: Nach den tödlichen Messerstichen auf einen obdachlosen Mann sucht die Polizei auch den Kanal ab.
Dortmund vergangene Woche: Nach den tödlichen Messerstichen auf einen obdachlosen Mann sucht die Polizei auch den Kanal ab. © Justin Brosch | Justin Brosch

Von 200 Passanten haben drei ein Messer bei sich

Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Zahlen beziehen sich auf die Corona-Jahre, in denen Lockdowns und andere Beschränkungen verhinderten, dass Menschen einander in Gruppen begegneten – und öffentlich stritten. Die Polizei-Studie „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland“ (SKiD) ergab zudem kürzlich, dass von 200 Leuten, denen man auf der Straße begegnen, drei ein Messer bei sich haben. Die Dunkelziffern sind dabei vermutlich hoch: Konflikte, bei denen niemand schwer verletzt wird, werden innerhalb bestimmter Milieus – etwa im Bereich Wohnungsloser oder auch krimineller Clans – womöglich gar nicht angezeigt.

Minister Reul sagt: „Menschen müssen verstehen, dass sie keine Messer brauchen.“ Wie das aber zu erreichen ist? Die Gewerkschaft der Polizei setzt auf Prävention. In Schulen oder Sportvereinen müssten junge Menschen aufgeklärt werden darüber, wie gefährlich Messer sind. „Die breite Masse unterschätzt das“, sagt GdP-Chef Mertens. Das ist schwer vorstellbar, andererseits: „Die meisten jungen Menschen wissen auch, wie gefährlich Autounfälle sind. Und fahren trotzdem so, als seien sie unsterblich.“ Zudem seien gerade Jüngere geprägt von Fernsehfilmen, Krimis und Videos, „wo Menschen getötet werden, wieder aufstehen und einfach weitermachen“.

Jeder Täter muss spüren: Das ist kein Spaß

Die Behörden müssten energisch genug eingreifen, sagt der Kriminalpolizist: „Jemandem, der keinen Respekt hat, muss ich das klarmachen.“ Die Wege in der Rechtsprechung seien dafür aber zu lang. Ein junger Mensch müsse „spüren, das ist kein Spaß“.

Wichtig findet auch Mertens, dass die große Mehrheit derjenigen, die kein Messer bei sich tragen, die anderen stoppten: „Mach das Ding weg, sonst gehe ich nicht mit dir in die Disco!“ Auf solche Botschaften setzt auch der Minister: „Eine Stichwaffe ist kein Handy und keine Geldbörse und darf deshalb niemals zu den gewöhnlichen persönlichen Gegenständen gehören“, sagt Reul gerne. „Messer gehören in die Küche, nicht auf die Partymeile“, wiederholt er. „Gehen Sie nicht mit einem Messer spazieren!“

In Köln und Düsseldorf gelten die ältesten beiden Waffenverbotszonen in Nordrhein-Westfalen. Ab 20 Uhr dürfen keine Elektroschocker, Messer oder Reizgas mitgeführt werden, die Polizei kontrolliert.
In Köln und Düsseldorf gelten die ältesten beiden Waffenverbotszonen in Nordrhein-Westfalen. Ab 20 Uhr dürfen keine Elektroschocker, Messer oder Reizgas mitgeführt werden, die Polizei kontrolliert. © action press | Panama Pictures

Zahlen zur Messerstatistik werden erst später bekanntgegeben

NRW und sein Innenminister setzen in Großstädten, an deren Bahnhöfen oder Eventmeilen wie der Düsseldorfer Altstadt inzwischen auf Waffenverbotszonen. Diese hätten sich bewährt, sagt Reul, die Delikte seien seither rückläufig. An mehreren Wochenenden im vergangenen Jahr hatten Polizisten Tausende Menschen kontrolliert. Das wolle man weiterführen.

Die brandneue Polizeiliche Kriminalitätsstatistik allerdings weist die Straftaten mit dem „Tatmittel Messer“ für 2023 noch gar nicht aus. Am Rande der Vorstellung Anfang April hatte Reul aber angedeutet, das Land müsse sich intensiver mit diesem Thema beschäftigen. Was ahnen lässt, dass diese Delikte nach den deutlichen, wahrscheinlich aber coronabedingten Rückgängen in den Vorjahren wieder gestiegen sind. Dafür spricht auch, was der Innenminister nach der Tat von Dortmund dieser Zeitung sagte: „Die zunehmende Verbreitung der Messergewalt im öffentlichen Raum ist ein alarmierender Trend.“ Die tatsächlichen Zahlen will er frühestens Ende des Monats vorlegen.