Oberhausen/Ruhrgebiet. Angriffe von Jugendlichen auf Obdachlose häufen sich. Sind es Einzelfälle oder werden mehr Jugendliche gewalttätig?

Sind es schreckliche Einzelfälle oder Symptome eines Trends zu härterer Jugendkriminalität?

  • Am Dortmunder Hafen sollen zwei Kinder und zwei Jugendliche im Alter von 14 und 15 Jahren einen Obdachlosen erstochen haben. Die Polizei glaubt: Der 31-jährige Mann war wohl ein Zufallsopfer.
  • Nach einem Messerangriff am 10. Februar am Oberhausener Busbahnhof starben zwei jungen Basketballspieler aus der Ukraine. Eine Gruppe von Jugendlichen und Kindern soll sie angegriffen haben, ein 15-jähriger Deutsch-Türke aus Gelsenkirchen gilt der Polizei als Haupttäter. Er soll wie im Blutrausch auch zwei seiner Freunde schwer verletzt haben.
  • Mit einem Handy sollen drei Jugendliche in Moers ihren Angriff auf zwei wohnungslose Männer am Altweiberdonnerstag gefilmt haben. Ein 58-Jähriger starb nach den Tritten.
  • Versuchter Mord wird drei Jugendlichen aus Essen vorgeworfen. Sie sollen Mitte Januar in Altenessen einen schlafenden Obdachlosen unvermittelt getreten und geschlagen und dabei schwer verletzt haben.
  • Wegen Totschlags müssen drei Jugendliche mehrere Jahre ins Gefängnis. Das Landgericht Detmold verurteilte sie Ende Februar, weil sie im Herbst 2023 einen Obdachlosen (47) mit einem Messer getötet hatten im Kreis Lippe.

In 22.500 Fällen wurden Kinder kriminell - ein Plus von 7,4 Prozent

In den vergangenen zwei Jahre haben wir öfter berichten müssen über Raubüberfälle unter Jugendlichen in Gelsenkirchen, über Jugendgruppen, die in Duisburg, Hagen oder Bottrop randalierten. Zuletzt stieg auch die Zahl der jungen Straftäter um fast ein Fünftel innerhalb eines Jahres. Die Kinder- und Jugendkriminalität im Bereich der Gewaltdelikte nahm im Jahr 2023 landesweit um 10,8 Prozent auf 95.300 Fälle zu. In rund 22.500 Fällen wurden tatverdächtige Kinder ermittelt (plus 7,4 Prozent), in rund 48.000 Fällen tatverdächtige Jugendliche (plus 6,1 Prozent).

Allerdings – darauf haben wir immer hingewiesen – war die Pandemie eine besondere Zeit, in der deutlich weniger Straftaten begangen wurden. Der Eindruck kann entstehen, dass immer mehr Jugendliche kriminell werden, dass die Gruppe der Intensivtäter wächst. Was ist dran? Ein Faktencheck.

Ist die Jugend krimineller als früher?

Hilfreich ist immer der Langzeitvergleich: Die Zahl der jungen Tatverdächtigen (acht bis unter 21 Jahren) in NRW liegt laut aktueller Kriminalstatistik mit fast 108.000 auf ähnlichem Niveau wie vor zehn Jahren – trotz des erwähnten jüngsten Anstiegs. Zur Einordnung gehört aber, dass die Jugenddelinquenz schon länger rückläufig ist. Im Jahr 2000 lag die Zahl der Tatverdächtigen noch bei 144.000.

Im Laufe der folgenden Textes nutzen wir Zahlen aus der Kriminalstatistik des Jahres 2022, da die Berichte für das Jahr 2023 bisher nur auszugsweise veröffentlicht wurde.

Auch die Zahl der jungen Intensivtäter in NRW geht seit etwa zwanzig Jahren fast kontinuierlich zurück und lag 2022 mit unter 5000 auf dem niedrigsten Stand seit Anfang der Neunziger (wenn man die Pandemiejahre ‘20 und ’21 ausnimmt). Zehn Jahre zuvor zählte die Polizei fast 7000 und im Jahr 2004 sogar 7900 junge Verdächtige, die mindestens fünf Straftaten begangen haben sollen. Noch weiter zurück, im Jahr 1994, landeten rund 5800 in der Kriminalstatistik.

Allerdings ist die Zahl der Intensivtäter, die noch im Kindesalter sind, zuletzt auf ein Zehn-Jahres-Hoch geschnellt. In absoluten Zahlen: 424 Mehrfachtatverdächtige in NRW waren erst 8 bis unter 14 Jahre alt. Auch hier gilt: In den 90er- und Nullerjahren war die Lage dramatischer. Damals lag die Zahl der mehrfach straffälligen Kinder höher – absolut und relativ. Derzeit macht ihr Anteil an allen Intensivtätern rund zwei Prozent aus. Früher schwankte die Quote zwischen drei und vier Prozent – und das auf höherem Niveau.

Gibt es im Ruhrgebiet mehr Intensivtäter als anderswo?

Mit Hagen, Oberhausen, Bochum und Dortmund liegen einige besonders stark betroffene Städte im Ruhrgebiet. Allerdings finden wir den Spitzenreiter woanders, ausgerechnet im wirtschaftlich hervorragend aufgestellten Münster. In der Stadt, die vor zwanzig Jahren mal zur lebenswertesten der Welt gekürt wurde, ist die Dichte an jungen Intensivtätern am höchsten in NRW.

Im Lagebild Jugendkriminalität gibt die „Belastungszahl“ Auskunft zu unserer Fragestellung. Sie beschreibt, wie viele Tatverdächtige auf 100.000 Altersgenossen kommen. In Münster lag diese Quote zuletzt bei 342 – das bedeutet, dass jeder rund 300. Bewohner von acht bis unter 21 Jahren mit mindestens fünf Straftaten aufgefallen ist. Eine einfache Erklärung dafür hat die Polizei Münster auf Nachfrage nicht, an Fahrraddiebstählen liegt es jedenfalls nicht. Das ist fast doppelt so hoch wie in Essen oder Gelsenkirchen, die sich mit einer Belastungszahl von 175 deutlich unter dem NRW-Schnitt von 225 bewegen. Die Rangliste finden Sie in der folgenden Grafik.

Die Intensivtäter im Kindesalter verteilen sich jedoch ganz anders. Hier hat Oberhausen das mit Abstand größte Problem in NRW (164 auf 100.000 Gleichaltrige), gefolgt von Hagen (120) und Bochum (108). Auch Gelsenkirchen (78) ragt negativ heraus. Münster (66) hat mit mehrfach straffälligen Kindern ein deutlich kleineres Problem, als es die Gesamtzahl der unter-21-jährigen Intensivtäter vermuten lässt. In Essen (mit Mülheim) spielen Kinder eine viel geringere Rolle (10).

Sind die jugendlichen Straftäter heute gewalttätiger?

Mord und Totschlag sind relativ selten, letzteres geschieht häufig im Affekt. Das mag der Grund sein, dass die Fallzahlen über lange Zeit keinen erkennbaren Trend aufweisen. Die Zahl der jungen Tatverdächtigen in NRW schwankt hier in den vergangenen 20 Jahren zwischen rund 50 und 110.

Auch die Zahl der Körperverletzungen, die durch junge Täter begangen werden, ist in den vergangenen zehn Jahren recht stabil geblieben und schwankt um die 24.000. Dies steht im Kontrast zum allgemeinen Trend: Denn insgesamt hat die Zahl der Körperverletzungen nach der Pandemie einen Sprung gemacht und sich seit 2000 fast verdoppelt. Die Erwachsenen sind also gewalttätiger geworden, die Jüngeren insgesamt nicht. Wieder bereitet der Blick auf die Kinder Sorgen: Noch nie in den vergangenen zehn Jahren haben Kinder so häufig Körperverletzungen begangen wie 2022 (fast 5000 Fälle, sonst immer unter 4000).

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Dieser Effekt lässt sich auch bei Raubdelikten und Sachbeschädigungen feststellen: Die Zahl der Kinder, die zum Täter werden, ist jeweils 2022 auf einen Zehn-Jahres-Höchststand geschnellt. (Auch wenn die Zahl der Tatverdächtigen unter 21 Jahren im Langfristvergleich stagniert oder zurückgeht.)

Werden Migranten häufiger strafffällig?

Die Statistik unterscheidet nicht nach Migrationshintergrund, sondern nach Staatsangehörigkeit. Mehr als ein Viertel (28,8 %) der 102.570 Tatverdächtigen unter 21 Jahren waren 29.537 nichtdeutsch, laut Lagebild Jugendkriminalität. Aussagekräftiger ist allerdings die Belastungszahl. Sie liegt bei deutschen Kindern bei 1650, bei Nichtdeutschen bei 4050. Bezogen auf ihre Gruppe werden also ungefähr zweieinhalbmal so viele ausländische Kinder straffällig wie deutsche. Bei Heranwachsenden erhöht sich das Verhältnis (1:2,75). Bei Intensivtätern sieht es laut der bundesweiten Kriminalstatistik sehr ähnlich aus.

Im Bereich der Körperverletzungen liegt das Verhältnis deutscher zu nichtdeutschen Tatverdächtiger ebenfalls bei eins zu zweieinhalb. Das bedeutet: Es gibt im Verhältnis zur statistischen Gruppe mehr nichtdeutsche Tatverdächtige, und der Einzelne begeht etwa genauso häufig Körperverletzungen wie der deutsche Verdächtige. Bei Raubdelikten ist das Verhältnis noch etwas geringer (1 : 1,8).

Welche Rolle spielen Jugendbanden?

Tatsächlich werde „der Großteil der Jugenddelikte in Gruppen begangen“, sagt Laura Gammon, Kriminalhauptkommissarin und Dozentin an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in Hagen. Allerdings zeichne eine Jugendbande sich durch Organisation und eine Zielsetzung aus. „Das Phänomen existiert, aber es ist eine Ausnahme“. Zumeist handelten die Jugendlichen in Cliquen „spontan und nach Gelegenheit“. Die Intensivtäter seien allerdings „für einen Großteil der Straftaten verantwortlich“. In Zahlen des Innenministeriums: Ungefähr die Hälfte aller Straftaten in der jungen Altersgruppe werden von Intensivtätern begangen. Sie machen sechs bis zehn Prozent der jungen Tatverdächtigen aus.

Das Phänomen der Jugendbanden existiert, aber es ist eine Ausnahme.
Laura Gammon - Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung

Helfen härtere Strafen?

Kinder sind noch nicht strafmündig, erklärt Laura Gammon. Und das Jugendgerichtsgesetz ziele nicht auf Strafen, sondern auf Erziehung. Aber Gammon kritisiert auch: „Die Reaktion auf die Straftat erfolgt spät. Nach einem halben Jahr und mehr ist es für junge Menschen schon sehr schwierig noch einen Zusammenhang herzustellen.“

Was man machen kann: „Es gilt, die Problemlagen zu beseitigen: fehlende Strukturen im Alltag, kriminelle Peergroups, soziale Ausgrenzung. In ein paar Wochen Jugendarrest kann man vielleicht Dinge wie einen Drogenentzug anstoßen oder Arbeit besorgen. Aber es muss danach ein Übergangsmanagement geben.“

Das Jugendamt ist besonders gefragt im Zusammenspiel aller Institutionen. Als effektiv haben sich Programme wie „Kurve kriegen“ erwiesen, die sehr früh ansetzen. Im Schnitt sind die Teilnehmer erst dreizehn Jahre alt. Sie sind freiwillig dabei, auch ihre Familien müssen überzeugt werden. Das ist ein mühsamer Prozess. Aber: „Kinder entscheiden sich gegen eine Straftat, wenn etwas auf dem Spiel steht“, sagt Gammon. „Der Migrationshintergrund ist nicht entscheidend. Sondern: In welchen Problemlagen stehen die jungen Menschen?“

Kostet das nicht eine Menge Geld?

Ja, „Kurve kriegen“ kostet pro Teilnehmer etwa 11.000 Euro im Jahr. Bei über 2300 Teilnehmenden hat NRW bereits über 25 Millionen Euro investiert. Allerdings hebt Innenminister Herbert Reul (CDU) hervor, zahle sich das aus. „Ein Intensivtäter verursacht bis zu seinem 25. Lebensjahr durchschnittlich 100 Opfer und soziale Folgekosten in Höhe von etwa 1,7 Millionen Euro.“

Etwa 40 Prozent der Absolventen werden nicht mehr straffällig, bei den anderen reduziert sich die Zahl der Straftaten statistisch um die Hälfte. Doch selbst wenn man das berücksichtigt, soll jeder in diese Prävention investierte Euro sich zehnfach auszahlen, hat das Innenministerium ausrechnen lassen. „Kurve kriegen“ läuft in NRW mittlerweile fast flächendeckend (in 40 von 47 Polizeibehörden). Und Schweden, das eine Welle extremer Jugend- und Bandenkriminalität erlebt, will es nun kopieren unter dem Titel „back on track“.