Dortmund. Die Tafeln in NRW helfen 600.000 Menschen, fast doppelt so vielen wie 2021. Sie versuchen dem Ansturm Herr zu werden. Jeder kann helfen.
Es ist einer dieser verregneten Januarvormittage, als Herr G. seine gelbe Einkaufstasche greift. Gestern ist er 59 Jahre alt geworden. Seine Kinder waren da, „nur ein bisschen Zusammensein“, nichts Großes. Für alles Große und vieles Kleine fehlt das Geld, seit der Rücken kaputt ist und Herr G. nicht mehr bei der Bahn arbeiten kann. Herr G. bekommt Bürgergeld. Wenn er seine gelbe Einkaufstasche greift, dann geht er nicht in den nächsten Supermarkt. Er macht sich auf zur Tafel Dortmund.
Selten waren die 174 Tafeln in NRW so gefragt wie jetzt. Rund 600.000 Bedürftige erhalten bei ihnen Lebensmittel, die andernfalls auf dem Müll landen würden. Vor dem Ukraine-Krieg waren es noch 350.000 Menschen. Nicht nur ukrainische Flüchtlinge kommen - die starke Inflation hat mehr Menschen mit kleiner Rente, Alleinerziehende und sogar Studierende gebracht.
Tafeln in NRW: „Ehrenamtliche sind an der Kapazitätsgrenze“
Der Ansturm der Armen wächst, auf der anderen Seite fehlen vielerorts Ehrenamtliche und Lebensmittelspenden. „Unsere Ehrenamtlichen sind an der Kapazitätsgrenze“, sagt Petra Jung vom Dachverband der Tafeln in NRW. „Wir suchen Wege, die Lücken zu füllen und strecken uns nach der Decke.“ Die Zahlen stiegen weiter leicht. Einige Tafeln hätten immer noch Aufnahmestopps, andere ihre Ausgaben reduziert. Wie kann es gelingen, so vielen Bedürftigen zu helfen?
Ein Besuch in Dortmund gibt mehr als eine Antwort auf diese Frage. Die Tafeln versuchen sich selbst zu helfen - und brauchen doch Unterstützung von jedermann.
Horst Röhr muss das Tweetjacket mit der Hand gegen den Regen zuhalten, so zügig läuft er über den Hof der alten Wäscherei in der Dortmunder Nordstadt. Seit 2004 hat die Tafel hier ihren Sitz, seit zehn Jahren ist Röhr ihr unermüdlicher und mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichneter Vorsitzender. „Ich hoffe, Sie haben Zeit mitgebracht“, sagt der 80-Jährige und geht schon los.
Bei der Dortmunder Tafel ist schon 2016 klar geworden, dass sie den Spendenbedarf mit lokalen Händler allein nicht decken kann. Auch der Handel muss immer genauer planen und verkauft Lebensmittel kurz vor Erreichen des Mindesthaltbarkeitsdatums vielfach mit Rabatt, anstatt sie zu spenden. Die Dortmunder gingen deshalb zur Quelle: Sie klapperten Produzenten ab.
Heute erhält die Dortmunder Tafel immer noch von vielen lokalen Händlern gespendete Lebensmittel, Konserven und Hygieneprodukte - aber eben auch von 41 Großlieferanten. Die Tafel hat dank Spenden und Förderern Container und Kühlräume angeschafft, in denen Waren gelagert werden. Von dort werden sie auch an kleinere Tafeln im Umland verteilt. Sieben solcher Verteilzentren gibt es inzwischen bei den Tafeln in NRW, gefördert vom Land.
100 Tonnen Lebensmittel in der Woche: So groß ist der Bedarf in Dortmund
Wenn Röhr über die Dortmunder Tafel spricht, nennt er ihren Wandel beim Namen: „Wir sind ein Unternehmen geworden“, sagt er unter dem Dach der Warenannahme. Eine Palette mit Marmelade steht dort bereit, daneben zwei mit gesäuberten Gemüsekisten. Einer der 13 Sprinter der Tafel fährt vor, der für eine der inzwischen elf Filialen in Dortmund gepackt werden will.
2023 hat die Tafel zwei neue Filialen eröffnet - sie versorgen damit jede Woche 4600 Menschen mit bis zu 100 Tonnen Lebensmitteln. Rechnet man die Familien hinter den Kunden dazu, die gegen einen Euro einmal in der Woche zu einer individuellen bestimmten Zeit einkaufen kommen dürfen, hilft die Tafel rund 14.500 bedürftigen Menschen. 1000 davon machen ukrainische Flüchtlinge aus, 1300 sind Rentnerinnen und Rentner - selbst Pflegedienste kommen, um für ihre bettlägerigen Kunden einzukaufen. Auch in Dortmund machen sich Krieg und Inflation bemerkbar.
Tafeln arbeiten im Dauerkrisenmodus - Bochum funkt zum Jahreswechsel SOS
Unter diesem hohen Zustrom ächzen viele Tafeln. Der bundesweite Dachverband sprach unlängst von einem „Dauerkrisenmodus“, in dem die Sozialeinrichtungen arbeiteten. Die Bochumer Tafel meldete kurz vor dem Jahreswechsel sogar SOS, weil sie inzwischen 8000 Menschen mit schwindenden Spenden unterstützt. Laut NRW-Dachverband fehlen zudem vielfach Ehrenamtliche, vor allem Fahrer.
Die Dortmunder Tafel indes will sogar mehr Menschen ansprechen: Erstmals sollen Geringverdiener unter bestimmten Umständen zur Tafel gehen können. „Wir wollen damit auf die Diskussion um das Bürgergeld eingehen“, sagt Röhr. Zugleich will man erfindungsreicher zu mehr frischem Obst und Gemüse kommen: Die Tafel will auf den Acker und Unverkäufliches abernten.
Sortiert werden Obst und Gemüse an diesem Vormittag hinter dicken Kunststofflamellen. Gut ein Dutzend Menschen stehen in Winterjacken und Mützen vor hüfthohen Metalltischen. Hier und da wird gescherzt, aber gewissenhaft sind die Blicke auf die Kirschtomaten und Äpfel gerichtet.
Knapp 500 Menschen arbeiten bei der Dortmunder Tafel - das Gros, rund 370 Menschen, sind Ehrenamtliche. Dazu kommen junge Menschen im Bundesfreiwilligendienst wie der Fabian, der im Studium zu sehr Einzelkämpfer sein sollte und lieber für andere kämpfen will, oder Sebastian aus Ecuador, der mit einem Stipendium nach Deutschland kam.
Für die Bedürftigen machen die Tafeln einen Unterschied
79 Menschen kommen über Arbeitsgelegenheiten, früher Ein-Euro-Jobber, durch das Jobcenter, Menschen wie Sascha Heinicke. Der 43-Jährige hat früher bei Amazon als Schichtleiter gearbeitet. Heute ist er trockener Alkoholiker und bei der Tafel einer der Männer, die Ware abladen, Bestände im Blick haben und für kleinere Tafeln kommissionieren. „Das ist eine sinnvolle Arbeit, man macht was Soziales“, sagt der drahtige Mann mit Bürstenhaarschnitt.
Was braucht es also für die Tafeln in Deutschland, damit sie weiterhin Bedürftige unterstützen können? Ansgar Wortmann ist Bereichsleiter bei der Dortmunder Tafel, ein geduldiger Mann, der ausreden lässt und nachdenklich spricht. Er sagt, dass die Tafeln, egal in welcher konkreten Lage sie seien, Fürsprache benötigten. Das sei etwas, das jeder tun könne. „Wir alle leben davon, dass man über unsere Arbeit spricht. So werden Spender, Unterstützer und Ehrenamtliche auf uns aufmerksam, was unsere Arbeit ermöglicht.“
Herr G. hat seine gelbe Einkaufstasche inzwischen gefüllt. Was ohne die Tafel wäre? Er zeigt verlegen auf seine Tasche. „Im Supermarkt hätte ich mir heute zwei Tomaten kaufen können, hier habe ich eine ganze Packung bekommen.“