Duisburg. Zu beiden Tatorten in der Altstadt musste der Messerstecher von Duisburg von seiner Wohnung aus nur wenige Hundert Meter gehen. Eine Spurensuche.
„Versuchter Mord“ und „Mord“. Die Fahndungsplakate der Polizei, rot umrandetes Din A 3, hängen einträchtig nebeneinander an leeren Schaufensterscheiben, von denen es so viele gibt in diesem Viertel. Tatort „Duisburg Altstadt“, steht auf beiden, und nun gehören sie wohl tatsächlich zusammen. Zwei Messer-Angriffe, ein Täter – und der hatte es in beiden Fällen nicht weit.
Sein voller Name steht noch an der Klingel, zwischen lauter Allerweltsnamen: deutschen, türkischen, spanischen, arabischen. Vom Briefkasten ist das Schild entfernt, aber vielleicht war es auch nie da. In der Haustür steckt ein nagelneues Schloss, die Polizei muss sie aufgebrochen haben, als sie den Tatverdächtigen festnahm am vergangenen Sonntag, kurz nach Mitternacht. Von hier aus, da sind die Ermittler inzwischen sicher, muss der 26-jährige Syrer aufgebrochen sein: in der Nacht zu Ostersonntag zu einem Mord, eineinhalb Wochen später zu einer weiteren Bluttat im Fitness-Studio.
Die Münzstraße: Eigentlich ein touristisches Einfallstor
200 Schritte nur. Vielleicht 100 Meter nach links aus dem Haus, wo alle Fenster zugehängt sind mit Gardinen, einige wenige mit Tüchern. Auf dem Sims stehen Satellitenschüsseln, an einem Fallrohr baumelt noch ein Stück Flatterband. Das Ladenlokal auf der einen Seite hinter blinden Scheiben leer, das auf der anderen schon so lange zugeklebt, dass der weiße Kunststoff rissig geworden ist. Dies ist die Münzstraße, eigentlich ein wertvolles Stück Duisburg: Sie führt direkt zum Steiger, an dem die Ausflugsschiffe ablegen. Man könnte hier flanieren, dies sei, sagt ein Kenner der Stadt, „das Tor zum touristischen Teil des Innenhafens“.
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Nur teilt dieses Stück Straße das Schicksal so vieler Fußgängerzonen-Enden im Revier: Hier verläuft sich der Publikumsverkehr in ein tatsächliches Nichts, in vielen Geschäften ist kein Leben mehr; P&C, C&A, Sinn Leffers sind lange ausgezogen. „Altstadt“ bedeutet hier lange Reihen von Betonskelettbauten, 50er- oder 70er-Jahre, Metallverkleidungen, Waschbeton. „Abgehängt“, sagen Duisburger über das Viertel, „abgerockt“ oder sogar „abgestorben“. Dabei ist es nicht tot, neue Geschäftsleute sind eingezogen, nicht nur die Stadt bemüht sich um Wiederbelebung. Ein Hausverwalter sieht „ein Quartier der Zukunft“, die Wirtschaftsförderung träumt von einem „angesagten Kiez“ – es gibt kleine Cafés, unter dem alten Schild „Metzgerei“ einen veganen Imbiss und nicht erst seit dem Einzug des Fitness-Studios „John Reed“ vermehrtes Interesse von studentischen Mietern.
Zwei Polizeisiegel kleben an der Tür des Fitness-Studios
Hier also wohnte der Tatverdächtige, in Sichtweite des Studios, in dem er möglicherweise das Messer gegen vier Männer richtete. Links und wieder links, vorbei an einem Werbeschild: „Hey, Duisburg, es ist Zeit zum Entspannen“ – dann muss er vor dem Eingang gestanden haben, der nun verschlossen ist. Unscheinbar, kein Hinweis, nur zwei Polizeisiegel kleben an der Tür, Kommissariat 11, silbern und lila. Gegenüber von dem Ort, wo die zweite Bluttat geschah, werben Plakate für Plasmaspenden.
Der Täter drang hier in die Umkleidekabinen ein, bei der ersten Tat traf er womöglich auf der Straße sein Zufallsopfer. Die Ecke, an der das 35-jährige Opfer gefunden wurde, liegt nur wenige Hundert Meter in die andere Richtung. Eine Tulpe auf dem Bürgersteig ist längst verwelkt, in eines der sechs Grablichte hat jemand ein paar Löwenzahnblüten gesteckt. Vom Schulhof dringt Kinderlachen herüber, nebenan kommen die Kleinen zum Mittagessen. Und an der Ecke wartet die Trinkhalle auf Kunden.
Keine Bilder auf der Überwachungskamera
Sie standen Schlange, sagt der Inhaber, jeden Morgen ab sechs, 26 Jahre lang. Seit Ostern schmiert der Mann die Brötchen umsonst. Es kommt kaum noch jemand, „die Leute haben Angst“. Seine Frau hat ihm geraten, erst um sieben zu öffnen, was soll er so früh aufstehen. Seine Überwachungskamera zeigt keine Bilder aus der Osternacht, die Polizei hatte die Festplatte schon früher mitgenommen, sagte er; da sei es um etwas anderes gegangen.
Auch an der Ecke der Täter-Wohnung gibt es eine Bude, sie gehört Rosi Zaubi. Rosi sagt, sie hat den Mann auf den Fahndungsfotos nicht erkannt, „ich könnte 30.000 Leute benennen am Tag, die so aussehen“: Kappe, Rucksack, Schuhe mit weißer Sohle, „die haben doch alle“. Keiner kannte ihn, keiner hat ihn je wahrgenommen, „dabei war das dein Nachbar“, sagt Frau Mühlig. Die 88-Jährige sagt, die Leute wollten keinen Kontakt mehr, „man ist in sich gekehrt“, findet auch Rosi Zaubi. Ihren Stammgästen reicht sie ungefragt das Würstchen über den Tresen, diese Menschen kennt sie, aber sie sind nicht mehr viele.
Früher Verdacht: „Tatort und -zeit liegen schon sehr nahe zusammen“
„Wer weiß“, sagt Rosi, „was der Mann abends geträumt hat.“ Es war derselbe in beiden Fällen, das haben sie in der Münzstraße schon seit Tagen gesagt, dieselbe Gegend, ein langes Messer, sogar die Generalstaatsanwaltschaft hat das früh geahnt. „Tatort und -zeit liegen schon sehr nahe zusammen.“ Als das SEK kam, sagt Hildegard Mühlig, „habe ich gedacht, der Krieg ist ausgebrochen“. Und der Zauberer Marcel Wunder hatte ein ganz anderes Problem: Die Einsatzkräfte ließen den Magier nicht aus dem schäbigen Parkhaus gegenüber, jedenfalls nicht mit seinem Zauberkoffer.
Das erzählt Roland Golla an Rosis Theke, es habe am Ende nur Kartentricks gegeben, was für eine Geschichte! Sie können schon wieder lachen in der Münzstraße, aber viele verhalten den Schritt vor dem Nachbarhaus. „Es könnte hier mehr gemacht werden“, findet Golla, 43. „Aber ehrlich, mir passen die Menschen hier. Mir ist noch keiner doof gekommen.“