Ruhrgebiet. Das Land braucht 10.000 Laienrichter und ihren gesunden Menschenverstand. Schöffinnen und Schöffen urteilen im Namen des Volkes. Jetzt bewerben!

Dortmund braucht 816, Duisburg 626. Bochum sucht 756, Bottrop 80 und muss davon 36 nach Essen abgeben: Alle fünf Jahre ruft das ganze Land zur Schöffenwahl. Insgesamt werden in NRW diesmal rund 10.000 ehrenamtliche Richterinnen und Richter benötigt, mehr als je zuvor. Juristische Vorkenntnisse braucht niemand mitzubringen, es reicht: der gesunde Menschenverstand. Denn genau um den geht es.

Wer warum damals auf der Anklagebank saß, weiß Michael Haßdenteufel gar nicht mehr. Trotzdem kann sich der Düsseldorfer an seinen ersten „Fall“ gut erinnern, an seine eigene Unsicherheit, an seine Fragen. Eine stellte er dem Vorsitzenden Richter nach Abschluss der Beweisaufnahme: „Was möchten Sie denn jetzt? Meinen Rat?“ Nein, antwortete der. „Ihren Rat brauche ich nicht. Ich brauche Ihr Urteil.“ Es war der Moment, in dem seinem neuen Schöffen bewusst geworden ist, „in welcher Situation ich bin. Dass ich direkt in das Leben eines anderen Menschen eingreife“.

Justitia als Vorbild für die Laienrichter: Sie gehen unvoreingenommen an Angeklagte heran.
Justitia als Vorbild für die Laienrichter: Sie gehen unvoreingenommen an Angeklagte heran. © dpa | Volker Hartmann

Schöffen bleiben unvoreingenommen: keine Akteneinsicht

Tatsächlich sind Schöffen und Schöffinnen in der deutschen Justiz kein schmückendes und schweigendes Beiwerk einer Strafkammer. Sie entscheiden über Schuldfrage und Strafmaß gleichberechtigt mit, können die Berufsrichter sogar überstimmen. Und das gerade weil sie nicht Jura studiert haben, keine Paragrafen schon zigfach ausgelegt haben. Gefragt sind Lebenserfahrung, Gerechtigkeitssinn, Alltagswissen „ganz normaler“ Bürgerinnen und Bürger. Die „gänzlich unvoreingenommen an Zeugen herantreten“, wie der Essener Rechtsanwalt Volker Schröder lobt: „Schöffen kommen als Einzige in einer Hauptverhandlung ohne Akteneinsicht zum Urteil.“ In Namen des Volkes!

Bewerben für den „Job“, für den es jedoch nur eine Aufwandsentschädigung gibt und eine Freistellung durch den eigentlichen Arbeitgeber, kann sich laut Gerichtsverfassungsgesetz jeder Deutsche, der die deutsche Sprache beherrscht, selbst noch nicht schwer straffällig geworden und zwischen 25 und 69 Jahre alt ist. Einzig für die Jugendgerichte verlangt der Gesetzgeber eine Ausbildung oder Berufserfahrung im pädagogischen Bereich. Es gehe, sagt nicht nur der Bochumer Richter Michael Rehaag, „um die ganze Bandbreite der Gesellschaft“. Häufig entsenden aber auch politische Parteien und Gruppierungen Kandidaten. Die Vorschlagslisten müssen bis Ende März stehen und auf ihr zunächst doppelt so viele Anwärter wie tatsächlich gebraucht. Bis zum Herbst entscheidet ein Wahlausschuss aus Amtsrichtern, Verwaltungsbeamten und Vertrauenspersonen der Kommune, wer in den kommenden fünf Jahren an Amts- oder Landgericht ehrenamtlich urteilt.

„Volkes Stimme“ spricht vor Gericht mit: „Wichtige Errungenschaft“

Noch suchen die Städte, aber das Interesse ist durchaus groß. In Bochum bewirbt sich Susanne Kiesewetter zum wiederholten Mal um den „spannenden“ Schöffenposten: „Das ist mit Sicherheit kein Larifari-Ehrenamt.“ Ein 61-jähriger Düsseldorfer will diesmal unbedingt dabei sein. Dem gelernten Fotografen geht es um „Wissenserweiterung“ und darum, „mal etwas ganz anderes im Kopf zu machen“. Schöffe zu sein, hält er für einen „wichtigen Beitrag für die Gesellschaft“. Das sagt auch Michael Haßdenteufel, der sich inzwischen als NRW-Vorsitzender der Deutschen Vereinigung der Schöffinnen und Schöffen engagiert: Dass in Deutschland das Volk mitbestimmen dürfe vor Gericht, sei „eine wichtige Errungenschaft“.

Gesetze und Akten kennen nur die Berufsrichter. Schöffen sollen sich auf ihre Menschenkenntnis und ihren -verstand verlassen.
Gesetze und Akten kennen nur die Berufsrichter. Schöffen sollen sich auf ihre Menschenkenntnis und ihren -verstand verlassen. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Die wird zwar gelegentlich in Frage gestellt von meist pensionierten Richtern, die „Amateure“ an ihrer Seite zuweilen als lästig empfanden. Richter am Landgericht Rehaag aber erfährt „seine“ Schöffen als „wertvolle Unterstützung“: Die Laien seien für die Berufsjuristen „ein gutes Korrektiv“, schon weil sie die Kenner von Strafgesetzbuch und Strafprozessordnung zwingen, „die Dinge verständlich zu erklären, zu übersetzen“. Das sei nicht immer einfach, aber wichtig für die Bevölkerung. Fahrlässigkeit, Vorsatz, Absicht – wo sind da die oft feinen Unterschiede? Und dann die großen Wirtschaftsverfahren, sowas gilt schon unter Profis als das „Hochreck“ der Juristerei.

Erfahrene Schöffen begegnen solcher Kompetenz mit großem Respekt. „Richter sind eine Klasse für sich“, sagt der Gelsenkirchener Jochen Zygmunt anerkennend. Er glaubt aber auch: „Sie sehen weniger, was draußen passiert.“ Was er meint, spitzt Strafverteidiger Volker Schröder noch zu: Häufig stammten Berufsrichter aus „gutem Hause“, Schöffen hingegen „wissen, dass das Leben auf der Straße anders ist als im Bilderbuch“. Zygmunt hat 35 lang als Ausbildungsleiter gearbeitet, er kennt die Probleme gerade junger Straftäter. „Ich weiß Einzelschicksale einzuschätzen und zu bewerten.“

„Teams“ aus Laien und Profis werden jährlich neu gemischt

Das kann Michael Haßdenteufel bestätigen. Der sagt, das Schöffenamt habe ihn verändert: „Ich habe einen anderen Blick auf Jugendliche, die straffällig geworden sind.“ Der 59-Jährige denkt die Zukunft der Angeklagten mit, „über die Haftstrafe hinaus“. Mit den Berufsrichtern versucht er immer, einen Konsens zu finden. „Man diskutiert viel, aber wir wollen ja alle mit der Entscheidung leben.“ Auch damit sich Profis und Laien dabei nicht zu sehr aneinander gewöhnen und einspielen, werden die „Teams“ etwa am Landgericht Bochum jedes Jahr neu gemischt.

Dafür braucht das Gericht aber auch ausreichend Auswahl. Dass die Zahl der gesuchten Schöffen mit jeder Legislaturperiode steigt, liege, sagt Richter Rehaag, insgesamt an einer Stärkung der Justiz. Mehr Polizisten machen mehr aufgeklärte Straftaten machen mehr Verfahren vor mehr Strafkammern. Hinzu kommt, dass gerade bei großen Prozessen mehr und mehr auf Hilfsschöffen gesetzt wird: für den Fall, dass einer ausfällt. Zu groß ist das Risiko, dass wegen etwa einer dauerhaften Erkrankung ein ganzes Verfahren neu aufgerollt werden muss. Denn auch für den Schöffen gilt wie für alle Prozessbeteiligten: Er oder sie muss in jeder Minute anwesend sein. Immer.

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Schöffe muss aus Altersgründen ausscheiden

Das ist allerdings auch ein Grund für die Altersbegrenzung nach oben. Mit Ende 60 ist Schluss, sagt das Gesetz. Was für Anwälte allerdings nicht gilt und nach Meinung von Kritikern auch nicht mehr der Lebenswirklichkeit entspricht. Wie beim vielfach engagierten Jochen Zygmunt aus Gelsenkirchen (70), der auf Politiker und Papst verweist: „Der Staat verzichtet auf aktive Berufs- und Lebenserfahrung engagierter Bürger!“ Trotzdem hat die Konferenz der Justizminister die Abschaffung der Altershöchstgrenze zuletzt im Juni 2022 mehrheitlich abgelehnt. Das Schöffenamt erfordere „eine hohe körperliche und geistige Belastbarkeit“, zudem seien die Anforderung in den letzten Jahren gestiegen, weil Strafverfahren komplexer geworden seien. Auch Schöffen-Verbandschef Haßdenteufel weiß, wie „körperlich anstrengend“ ein Prozesstag sein kann: „Man muss schon in der Lage sein, acht Stunden lang zu sitzen.“

Sitzungstage bei Gericht können sehr lange dauern – mit wenigen Pausen.
Sitzungstage bei Gericht können sehr lange dauern – mit wenigen Pausen. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Ob man das auch wirklich will, ist indes nicht immer die Frage: Schöffe zu sein, ist nicht nur Ehre, sondern auch Bürgerpflicht. Wenn eine Stadt nicht ausreichend Kandidaten findet, darf sie auch Schöffen benennen. Zuletzt war das NRW-weit bei etwa zehn Prozent der Laienrichter der Fall. Ablehnen können sie das nur aus sehr zwingenden und ebenfalls gesetzlich festgelegten Gründen. Andererseits kann auch ein Gericht sich von Schöffen trennen. Rechtsanwalt Schröder hat es einmal erlebt, dass jemand einen Prozess verlassen musste: Der Mann hatte sich geweigert, Fotos aus der Akte anzusehen.

>>INFO: HIER KÖNNEN SIE SICH BEWERBEN

Bis zum 31. März können Interessierte sich als Schöffen bewerben – bei den Kommunen, meist den Rechtsämtern. Zum Teil haben die Städte eigene Internetseiten aufgebaut, zum Beispiel www.bochum.de/schoeffenwahl.

Die Gemeindevertretungen beschließen die Vorschlagslisten und übersenden sie an die Amtsgerichte. Über die Bestellung der Schöffen beschließt ein eigens zusammengestellter Wahlausschuss, in dem Richter, Mitglieder der Gemeindeverwaltung und gewählte Vertrauenspersonen sitzen.

Die Informationsseite des Bundesverbandes der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter e.V. und des Bundesministeriums der Justiz zur Schöffenwahl finden Sie hier.

Bewerbungsformular für das Schöffenamt

Bewerbungsformular für das Jugendschöffengericht