Schloß Holte-Stukenbrock. Was kostet Erinnerung? Der Streit um „Stalag 326“ in Ostwestfalen eskaliert. Warum sich nun sogar die New York Times für das Lager interessiert.
So viel Aufmerksamkeit war selten im kleinen Schloß Holte Stukenbrock in der Emssandebene bei Bielefeld, Ostwestfalen. Sogar die New York Times rief dieser Tage an: Stimmt das, was sogar in den Nachrichten kam? Die hatten berichtet von einer Kreistags-Sitzung; dort kippte die CDU-Fraktion eine Finanzzusage für den Ausbau einer NS-Gedenkstätte, mit den Stimmen der AfD. Das Kriegsgefangenenlager ist seither geschlossen. Skandal um Stalag 326? Das ist wirklich passiert.
Der große, leere, kalte, weiß getünchte Raum spricht nicht. Erzählt nicht von mehr als 300.000 Kriegsgefangenen, von Soldaten, die nackt in der Kälte warten, jungen Männern, die in Erdlöchern schlafen müssen, weil es für sie „weder Strohsack noch Decke“ gibt. Nur Erdhöhlen und später hölzerne Baracken und dieses Entlausungshaus. Das nichts sagt über Menschen, die ausgewählt werden für den nächsten Arbeitseinsatz, der sie vielleicht umbringt, die einander mit stumpfen Messern die Haare abrasieren müssen, nicht nur am Kopf. Nichts über bis zu 65.000, die diesen Ort nicht überlebt haben, die begraben liegen auf dem „Russenfriedhof“ nebenan: „Hier ruhen in der faschistischen Gefangenschaft zu Tode gequälte russischen Soldaten.“
Stalag 326: Erinnerung an „grauenhaftes Schicksal“ der Kriegsgefangenen
Der kahle Raum ist auch kaum erreichbar. Er liegt auf dem Geländer der Polizeischule, eingezäunt, man braucht Genehmigung, Begleitung, Personalausweis – und einen Termin. „Stalag 326“ ist eines der größten Stammlager der NS-Zeit, einer der wenigen Gedenkorte, der die Geschichte sowjetischer Kriegsgefangener erzählt und mit seinem Entlausungsgebäude einmalig in Europa. Aber es ist auch eine Stätte des Erinnerns, der das Vergessen droht.
Das soll sich ändern, seit 2015 schon: Damals besuchte Bundespräsident Joachim Gauck das Stalag und befand, es liege, „ein Erinnerungsschatten“ auf dem „grauenhaften Schicksal der zweitgrößten Opfergruppe des Zweiten Weltkriegs“. Die Planungen für einen Ausbau begannen, ein Zeichen der Hoffnung auch für die ehrenamtlichen Mitarbeiter. Die sandten schon vor zehn Jahren erste Hilferufe: Das Alter, der Aufwand, die vielen Besuche von Angehörigen, 3500 Besucher im Jahr, oft Schulklassen – die Gedenkstätte zu einem Ort der gelebten Erinnerung zu machen, ist für die zunehmend betagten Engagierten kaum mehr zu stemmen. Oliver Nickel als hauptamtlicher Leiter sagt es zudem selbst: Die Ausstellung mit Schautafeln und vergilbten Fotos sei alt, das Archiv zu klein, das Büro sowieso. Und von den noch bestehenden Baracken platzt der Putz.
CDU, unabhängige Wähler und AfD stimmen gegen Eigenanteil der Kommunen
Eine große Lösung soll her: ein Besucherzentrum, eine moderne, multimediale Schau und geschultes Personal, das die Geschichte erzählt, wenn die Zeitzeugen es nicht mehr können. Nickel, etwas erschlagen vom Rummel der vergangenen Tage, hat nur wenig Zeit für eine Führung, und doch steigen unter seinen Worten in den „Gewalträumen“ beklemmende Bilder auf, von Menschen in Angst, von Leid und Tod. Das hier sollen mehr Menschen erleben können, bis zu 200.000 im Jahr, haben sie berechnet, und fast das Wichtigste ist: Man muss ihnen dafür den Zugang erleichtern. Polizei- und Gedenkstättengelände sollen also getrennt werden, neue Grundstücke müssen erworben werden, Zäune gebaut, Leitungen gelegt.
65 Millionen Euro würde das kosten, ergab eine Machbarkeitsstudie. Schon weil die Baukosten zuletzt stiegen, wurde das bereits abgeschmolzen, „es wird immer kleiner“, sagt Oliver Nickel, aber er klagt darüber nicht. Bund und Land haben die Mittel zugesagt, was noch fehlte, waren die Betriebskosten: zehn Prozent für die Anrainer-Kommunen, in den letzten Tagen vor der Abstimmung im Kreistag wurde um wenige Zigtausend gerungen, am Ende standen 400.000 Euro im Antrag. Zahlbar jährlich, gedeckelt.
Die CDU-Fraktion stimmte dagegen. Die Freien und Unabhängigen Wähler (FWG/UWG) auch. Und die AfD.
Förderverein macht Gedenkstätte dicht – und nimmt CDU in Schutz
Das politische Beben war bis nach Berlin zu spüren und nun sogar bis nach New York. Den größten Schaden aber richtete es beim Förderverein von Stalag 326 an: Die Ehrenamtlichen seien „geschockt“, sagt Oliver Nickel. Sie bangten um das, was sie in 30 Jahren aufgebaut haben, die Stimmung? „Beschissen.“ Spontan schloss der Verein die Gedenkstätte, vorübergehend, heißt es. Man wolle zunächst einmal nachdenken. Die für den 21. Oktober geplante Jubiläumsfeier „30 Jahre Förderverein“ ist abgesagt. In einer Stellungnahme heißt es: „Gerade in der jetzigen Zeit ist es für die Demokratiebildung bei wachsendem Rechtspopulismus besonders wichtig, über den Nationalsozialismus mit seiner vernichtenden Ideologie der Ungleichwertigkeit der Menschen aufzuklären und vor den Gefahren für die Demokratie zu warnen.“
Wenig später sah sich der Vorstand gezwungen, eine zweite Stellungnahme zu schreiben: „Gegen die Diffamierung der CDU“. Denn die sieht sich seit der Entscheidung einem Shitstorm ausgesetzt. Auch Stalag-Geschäftsführer Nickel sagt, der späte Zeitpunkt sei „nicht ganz optimal“ gewesen, den Ausbau in Frage zu stellen. Vorwürfe, die Fraktion im Gütersloher Kreistag sei rechtsgerichtet, habe sich mit der AfD geeinigt und sei grundsätzlich gegen das Gedenken, weist auch er zurück. Im Gegenteil: Die Christdemokraten hätten sich bislang besonders für Stalag 326 eingesetzt. Tatsächlich hat unter anderen NRW-Landtagspräsident André Kuper mit einem eigens gegründeten Lenkungsausschuss die Planungen vorangetrieben und bis zur letzten Minute um den Betriebskostenanteil gekämpft.
CDU im Kreistag: Finanzieller Spielraum ist „sehr klein“
Auch die Fraktion selbst wehrt sich. Man sei „nicht gegen die Gedenkstätte oder gegen das Gedenken“, sondern „sehr dafür, die Gedenkstätte zu verbessern und zugänglich zu machen“, betont die Vorsitzende Birgit Ernst. Es gehe aber um die Dimension der Kosten. Im Haushalt seien lediglich 4,3 Millionen Euro für freiwillige Leistungen vorgesehen, der Spielraum sei „sehr klein“. Man müsse das Geld der Bürger verantwortungsvoll verwalten, so Ernst, deren Fraktion die Entscheidung intensiv debattiert habe. Aber „es schadet der Erinnerungskultur, wenn Bürger finden, dass ihr Geld nicht gut angelegt wird“.
Mit der AfD habe man sich keinesfalls verständigt, „wir machen keine gemeinsame Sache“. Ihr, Ernst, eine Nähe zu der Partei zu unterstellen, sei „absolut lächerlich“. „Welche Macht geben wir der AfD, wenn wir unsere Meinung ändern würden, weil die AfD ähnlich abstimmen könnte?“ Eine Mehrheit hätten die CDU auch zusammen mit AfD und EWG/UWG eigentlich nicht einmal gehabt, allerdings hätten am Abstimmungstag drei Abgeordnete der weiteren Opposition gefehlt.
Erste Millionen sind bereits geflossen
Wie aber geht es nun weiter? Dass das Millionenprojekt an dem fehlenden Betriebskostenzuschuss, also an 400.000 Euro vollends scheitern könnte, mag in Ostwestfalen keiner wirklich glauben. Zumal viele Gelder bereits geflossen sind, nicht nur in die Machbarkeitsstudie, sondern auch für die Ausweichflächen der Polizei. Die CDU schob ihrer Gegenstimme gleich neue Anträge hinterher: Man solle die Kosten für den Kreis auf 200.000 Euro deckeln. Oder das Finanzierungsvolumen an einem Runden Tisch neu ausloten, nicht aber auf der Grundlage der bisherigen Planung. Also neu denken, kleiner? Auch das wurde abgelehnt.
Übrigens auch vom Förderverein: Zu teuer sei allein die räumliche Trennung der Liegenschaften (14 Mio.) und die Aufbereitung des Geländes (10 Mio.), an der eigentlichen Aufwertung des Museums könne man nicht weiter sparen. Die jahrelang praktizierte Haltung „Alle loben, keiner zahlt“ hat für die Ehrenamtlichen keine Zukunft. Und dass die Gedenkstätte bislang „völlig unterfinanziert“ ist, bestreitet ja auch die CDU im Kreistag nicht. Also hofft Oliver Nickel, „dass wir noch einmal ins Gespräch kommen“, als Moderatorin hat sich bereits Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) angeboten.
Weinende Frauen an den Gräbern ihrer Väter und Großväter
Das Interesse jedenfalls sei da, sagt Nickel: Es sei „verwunderlich“, mehr noch, „nicht nachvollziehbar“, dass kaum jemand den touristischen Nutzen für die Region sehe. „64 Millionen werden in den Kreis investiert, da kommen viel mehr Menschen zu uns!“ Zweiflern hält der Historiker entgegen, die Nachfrage nach Erinnerungskultur nehme zu: „Wir sollten nicht fragen, wen interessiert das noch. Studien sagen uns: Es interessiert immer mehr!“ Und: „Für Demokratie-Bildung kann doch kein Euro zu wenig ausgegeben werden.“
Der Förderverein lädt ab sofort wöchentlich Bürger aus der Gegend ein, man will reden, zeigen, sich erklären. Auch erzählen, für wen die Ehrenamtlichen sich verantwortlich fühlen: für die Hinterbliebenen. Für die Familien in Russland, Georgien, der Ukraine, Aserbaidschan und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, die bis heute nach Angehörigen suchen. Nickel erzählt von weinenden Frauen, die in Schloß Holte-Stukenbrock, Deutschland, Jahrzehnten das Grab des Vaters oder Großvaters fanden, von Umarmungen unter Freunden. „Dafür will der Förderverein weiter stehen.“
Petition auf Change.org fordert eine Zukunft für die Gedenkstätte Stalag 326
Auch eine private Initiative will den Kreis dazu bewegen, nochmals über das Thema zu beraten. Eine Petition auf der Plattform Change.org mit dem Titel „Sichert die Zukunft der Gedenkstätte Stalag 326 VI K Senne“ unterschrieben bis Dienstagnachmittag mehr als 27.000 Menschen – weil „solche Erinnerungen niemals ausgelöscht werden dürfen“, „weil man nicht vergessen darf“ oder „weil ich nicht mal wusste, dass es dieses Lager gab“. Das genau will Felix Tiemann, der den Anstoß gab, ändern. Die Gedenkstätte brauche endliche eine angemessene Würdigung. „Die Bankrotterklärung an eine freiheitlich-demokratische Erinnerungskultur erschüttert uns zutiefst“, sie sei „blanker Hohn gegenüber der ehrenamtlichen Arbeit“.
Für Oliver Nickel und den Förderverein ist solcher Zuspruch Trost und Ansporn zugleich. Da schrieb ein 98-Jähriger über sein Entsetzen, die Familie zweier Wehrmachtssoldaten bot Spenden an, im Briefkasten liegen neue Mitgliedsanträge. „Das immerhin“, sagt Nickel, der nicht aufgeben will „gibt uns ein gutes Gefühl.“