Essen. Was bedeutet Heimat für Menschen, die ihr Land verlassen haben? Zugewanderte aus Südosteuropa erzählen von ihrem Weg ins Ruhrgebiet.
„Hier ist mein Zuhause“, sagt Nadja Suciu und breitet ihre Arme aus. „Hier“, damit meint die 43-Jährige den Stadtteil, in dem sie lebt: Altenessen. Vor fünf Jahren machte sich die gebürtige Rumänin mit ihren drei Töchtern auf den Weg ins rund 1500 Kilometer entfernte Deutschland, um im Ruhrgebiet ein neues Leben zu beginnen. Was bedeutet Heimat für Menschen, die ihr Land verlassen haben?
Eine neue Umgebung, eine fremde Sprache, eine andere Kultur – in Essen angekommen macht Nadja Suciu einen Deutschkurs, arbeitet als Reinigungskraft in einer Firma. „Ich wünsche mir für meine Kinder eine bessere Zukunft“, antwortet sie auf die Frage, warum sie sich für ein Leben in Deutschland entschieden hat. Zwei ihrer Mädchen besuchen mittlerweile die Grundschule, die älteste Tochter ein Berufskolleg. „Ich habe keinen Grund zurückzukehren“, sagt die alleinerziehende Mutter. Ihre Eltern lebten nicht mehr. „Wir sind hier, und wir bleiben hier.“
In Deutschland „achtet man auf Kinder“, sagt auch Monika Gaudi. Das vergangene Jahr sei für sie „nicht schön“ gewesen. „Mein Mann“, erzählt die gebürtige Portugiesin, „ist an Corona gestorben.“ Mit ihm kam sie vor vier Jahren aus Rumänien nach Deutschland – wollte in Altenessen ein neues Leben beginnen. „Hier habe ich meine Heimat gefunden“, sagt die 52-Jährige, die seit dem Tod ihres Mannes mit ihrer Nichte zusammenlebt. Sie fühle sich angenommen und respektiert. Menschen, die ihr auf der Straße begegneten, seien höflich und begrüßten sie mit einem Lächeln, erzählt sie.
Projekt MifriN: „Wir versuchen, mit beiden Seiten zu sprechen“
Doch wenn Monika Gaudi sagt, „Wir verstehen uns gut!“, gibt es auch einen anderen Teil der Wahrheit: In den Stadtteilen Altenessen und Altendorf kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen Zugewanderten und „alteingesessenen Anwohnern“, wie Ezerdjan Idrizi sagt. Er ist Leiter des Essener Projekts MifriN, kurz für „Migrantinnen und Migranten in friedlicher Nachbarschaft“. Laute Musik in den Abendstunden, Kindergeschrei oder Müll, der auf den Straßen oder in den Eingangsbereichen der Mietshäuser liegt, seien oft die Auslöser.
„Wir nehmen Kontakt auf und versuchen, mit beiden Seiten zu sprechen“, sagt Idrizi, der neben Deutsch und seiner Muttersprache Mazedonisch noch sieben weitere Sprachen spricht. Anwohner müssten verstehen, dass sich Kinderlärm nicht immer vermeiden lasse. Familien müssten sich aber auch an die Ruhezeiten und Hausregeln halten.
Vor etwa vier Jahren rief das kommunale Integrationszentrum der Stadt Essen gemeinsam mit dem Verein für Kinder- und Jugendarbeit (VKJ) und dem Diakoniewerk Essen das Projekt MifriN ins Leben. Dass es nachweisbare Probleme gibt mit Gewalt, Drogen, Vermüllung, berührt viele Zugewanderte offenbar nur am Rande. „Für viele Migrantinnen und Migranten sind diese Probleme überhaupt keine“, sagt Mareike Schulz vom VKJ. Sperrmüll an die Straße zu stellen und darauf zu warten, dass ihn irgendjemand abholt, sei in ihren Heimatländern „völlig normal“. „Da prallen Kulturen aufeinander“, sagt Schulz. Dass irgendetwas nicht stimmt, bemerkten viele erst, wenn sie den – oft nachvollziehbaren – Unmut der Anwohner zu spüren bekämen. Aber selbst dann könnten sie sich nur bedingt mit ihren deutschsprachigen Nachbarn verständigen.
„Ruhrgebiet – meine Heimat“: Alle Folgen finden Sie hier
Dieser Text ist Teil unserer WAZ-Serie „Ruhrgebiet – Meine Heimat“, in der wir Menschen vorstellen, die sich dem Ruhrgebiet auf eine besondere Weise verbunden fühlen. Alle Geschichten finden Sie hier:
- NRW-Heimatministerin: Warum „Heimat“ im Ruhrgebiet besonders ist
- „Ein Stück Heimat“: Kumpel aus Essen bauen Möbel mit Kohle
- Urlaub in der Heimat: „Das Ruhrgebiet hat einiges zu bieten“
- Die Bude als Heimat: Wie ein Duisburger seinen Traum lebt
- Zugewanderte aus Osteuropa: „Wir leben hier ein gutes Leben“
- WAZ-Leserinnen und Leser: „Diese Idylle gibt es kaum noch“
Gemeinsames Spielen: „Durch die Kinder kommen wir auch mit den Eltern in Kontakt“
Nach Angaben des kommunalen Integrationszentrums der Stadt Essen leben mittlerweile rund 3000 Bulgaren und mehr als 5400 Rumänen in Essen. Günstige Wohnungen und Verwandte oder Bekannte, die bereits im Essener Norden wohnen, machen die Stadtteile Altenessen und Altendorf für Zuwanderer attraktiv. „Gleichzeitig“, so das Diakoniewerk Essen, lösten große Gruppen von Zugezogenen, die immer mehr Raum im Stadtteil einnähmen, Verunsicherung bei den alteingesessenen Bewohnerinnen und Bewohnern aus.
Projektleiter Ezerdjan Idrizi versucht als Streetworker im Stadtteil zu vermitteln: „Es ist wichtig, dass die Menschen miteinander ins Gespräch kommen“, sagt er. Zweimal in der Woche zieht der 46-Jährige eine große Papiermülltonne auf eine Grünfläche nahe der Beratungsstelle – bunt beklebt mit Stickern und Buchstaben, die das Wort „SPIELETONNE“ bilden. Darin: Fußbälle, Tennisschläger und Hulla-Hoop-Reifen, die viele Kinder aus der Nachbarschaft auf den Spielplatz lockten. Es ist die Gemeinsamkeit, das friedliche Zusammensein, das die Mitarbeiter fördern wollen. Und: „Durch die Kinder kommen wir auch mit den Eltern in Kontakt.“
Aber auch die schulische Integration ist ein Thema: „Familien mit Kindern brauchen besondere Unterstützung“, weiß Mitarbeiterin Arzika Seljmani. Als Schulmittlerin begleitet sie Familien bei Elterngesprächen, hilft bei der Schulanmeldung und zeigt den Schülern am ersten Tag den Weg zum Unterricht. Kinder aus Familien, in denen kein Deutsch gesprochen wird, seien vor allem im coronabedingten Distanzunterricht benachteiligt gewesen. „Ihre Eltern können ihnen nicht helfen.“
Zugewanderte aus Südosteuropa: „Wir leben hier ein sehr gutes Leben“
Marijan Muliu zog vor zweieinhalb Jahren ins Ruhrgebiet, arbeitet in Essen bei einem Paketdienst. „In Rumänien ist es nicht so leicht, Arbeit zu finden, die gut bezahlt wird“, begründet er seine Entscheidung, nach Deutschland auszuwandern. „In der kurzen Zeit, in der ich hier lebe, habe ich gemerkt, wie groß der Unterschied ist.“
Seine beiden Kinder, zwei und sieben Jahre alt, könnten in Essen eine unbeschwerte Kindheit erleben, erhielten in der Schule Unterstützung und hätten gute Chancen auf einen Ausbildungsplatz, so der 34-Jährige. Er könne arbeiten und für seine Familie sorgen. „Das, was uns gefällt, sind die Menschen“, sagt Muliu und meint damit auch Projektleiter Ezerdjan Idrizi und sein Team. Sie helfen ihnen, in Essen anzukommen und dort heimisch zu werden. „Wir leben hier ein sehr gutes Leben.“
Recht auf Freizügigkeit für alle EU-Bürger
■ Innerhalb der Europäischen Union gilt seit Januar 2005 das Recht auf Freizügigkeit für alle EU-Bürger. Jeder EU-Bürger kann sich innerhalb der Europäischen Union frei bewegen, niederlassen und eine Arbeit aufnehmen kann.
■ Für jene Länder, die erst später beigetreten sind – Rumänien und Bulgarien – wurden Übergangsregelungen vereinbart. Diese Sonderregelungen sind seit dem 1. Januar 2014 entfallen.