Ruhrgebiet. Von Kindheitserinnerungen und dem Verlust der geliebten Idylle: WAZ-Leserinnen und Leser erzählen, was Heimat im Ruhrgebiet für sie bedeutet.
Eine vertraute Umgebung, ein Geruch, eine gemeinsame Sprache, Familie oder Freunde – Heimat bedeutet für jeden etwas anderes. Daher haben wir unsere Leserinnen und Leser gefragt: „Was ist für Sie Heimat? Wann, wo und mit wem fühlen Sie sich heimisch?“ – Die Antworten reichen von Erinnerungen an geliebte Menschen bis hin zum Gefühl der Heimatlosigkeit.
„Heimfahrt!“
Ich lese die WAZ, obwohl ich seit fast vier Jahrzehnten nicht mehr in Mülheim wohne. Und es braucht nur ein Zeitungsfoto des A 40-Tunnels in Essen, Fahrtrichtung Mülheim, um mich schlucken zu lassen: Heimfahrt! Noch ein paar Abfahrten, dann sind wir da. In der Heimat. Wo ein Fremder im Getümmel einfach fragen kann: „Hömma, wo gibbet denn den Kaffee?“ und das ganz normal ist. Wo jeder weiß, was ich meine, wenn ich sage: „Mein Urgroßvater war Obersteiger und mein Großvater Ausbildungssteiger“ und ich nicht erklären muss, was eine Stulle ist.
Heimat kann sich kaum noch jemand leisten in einer Gesellschaft, in der man immer dem Job hinterherziehen muss. Deshalb gibt es heute für viele die Wahlheimat. Sie erreicht niemals die emotionale Wucht des Ortes, an dem man aufgewachsen ist. Schön, ja, das kann sie sein. Doch ganz etwas anderes ist es, wenn man jederzeit und ohne fünfhundert Kilometer Anreise Menschen treffen kann, die man schon als Kind oder junger Mensch kannte – das erlaubt die wunderschönste Wahlheimat nicht. Nikola Fersing aus Suhlendorf, Niedersachsen
Das Hespertal
Das Hespertal in Essen war unser Spielplatz, unser Bach, unser Freibad. Unvergesslich schön. Christel Keppler aus Essen
„Heimat ist da, wo ich vertraut bin“
Heimat ist da, wo ich mich wohl und geborgen fühle, Menschen vertrauen kann und Freunde habe; wo ich sein kann, wie ich bin; wo ich Erinnerungen an meine Kindheit habe, die Grabstätten meiner Großeltern und Eltern besuchen kann. Heimat ist da, wo ich vertraut bin und mit Menschen zusammen bin, die ich liebe. Winfried Keul aus Essen
Tür zu!
Heimisch fühle ich mich schon, wenn der Zug in den Hauptbahnhof einrollt. Zuhause erst, wenn ich die Tür zu meinen eigenen vier Wänden hinter mir zumachen kann. Cinder Furia aus Duisburg
„Diese Idylle gibt es kaum noch“
Heimat ist vor allem Umgebung. Das menschliche Miteinander, Verwandte, Freunde, eine gute Nachbarschaft kann ich überall auf der Welt haben. Diese Idylle, in der ich aufgewachsen bin, gibt es kaum noch. Sie steht am Abgrund und stürzt jeden Moment hinein. Vermüllung, Vandalismus, Randale, Messerstechereien, illegale Autorennen, Trinkerszenen überall, Gewalttaten, Drogenhandel. Hinzu kommt das jahrelange Schwingen der Abrissbirne und das hemmungslose Zubetonieren jeder erreichbaren Grünfläche.
„Ruhrgebiet – meine Heimat“: Alle Folgen finden Sie hier
Dieser Text ist Teil unserer WAZ-Serie „Ruhrgebiet – Meine Heimat“, in der wir Menschen vorstellen, die sich dem Ruhrgebiet auf eine besondere Weise verbunden fühlen. Alle Geschichten finden Sie hier:NRW-Heimatministerin: Warum „Heimat“ im Ruhrgebiet besonders ist„Ein Stück Heimat“: Kumpel aus Essen bauen Möbel mit KohleUrlaub in der Heimat: „Das Ruhrgebiet hat einiges zu bieten“Die Bude als Heimat: Wie ein Duisburger seinen Traum lebtZugewanderte aus Osteuropa: „Wir leben hier ein gutes Leben“WAZ-Leserinnen und Leser: „Diese Idylle gibt es kaum noch“
Gemeinsame Sprache? Die gibt es gerade hier im Ruhrgebiet schon lange nicht mehr. Viele Leute sind nicht einmal in der Lage, ihren Stadtteil zu benennen oder ihren Straßennamen richtig zu schreiben. Nein, das ist keine Heimat mehr. Hätte man diese Entwicklung absehen können, wären viele Menschen aus dieser Region abgewandert, die heute zu alt dazu sind. Helga Hein aus Essen
Die 80er in voller Blüte
Ich habe schon in vielen Städten gelebt, aber Heimat ist ein Ort, an den man immer gerne zurückdenkt. Bei mir ist es die Stadt Essen, hier habe ich die 80er in voller Blüte erlebt, mit all den Discos, Clubs und anderen inoffiziellen Underground-Partys. Heute lebe ich in Velbert, seit über zehn Jahren meine neue Wahlheimat. Hier will ich nicht mehr weg, aber trotzdem denkt man gerne an die alte Heimat zurück. Martin Kosa aus Velbert
Die „Ruhrpottschnodderschnauze“
Ich, die „Ruhrpottschnodderschnauze“, wohne seit 2013 nicht mehr in Essen und ich liebe es, wenn ich am Hauptbahnhof aussteige und die Menschen reden höre. Das ist der Moment, wo es mir so richtig warm ums Herz wird. Das ist meine Heimat. Yvonne aus Hamburg
„Meine Kindheit und Jugend war grandios“
Den Begriff Heimat, so wie wir ihn von Kindesbeinen kennen und geliebt haben, den hat uns unsere Politik schamlos geraubt. Gewalt bestimmt selbst in unserem beschaubaren Rheinhausen das Leben. Unser größter Wochenmarkt am Niederrhein, früher beliebter Treffpunkt vieler Menschen in Rheinhausen, vorbei. Schnell hin, einkaufen und weg. Bist du der türkischen oder arabischer Sprache nicht mächtig, fühlst du dich fremd in deiner Stadt.
Seit 1955 lebe ich in Rheinhausen, besonders meine Kindheit und Jugend in den späten 50ern bis in die 70er war grandios. Man fühlte sich heimisch und behütet. Man freute sich nach dem Urlaub mit den Eltern auf Zuhause. Das war das Gefühl von Heimat und nicht das von heute. Udo Schulz aus Duisburg
Erinnerungen an einen geliebten Menschen
Ich lebte mit meinem damaligem Lebensgefährten lange in Oberhausen. Leider verstarb er 2010. Mich verbinden mit Oberhausen somit die schönen Erinnerungen mit diesem wundervollem Menschen. Anja Urban aus Oberhausen
Jeden Stein beim Namen kennen
Für mich ist Heimat, jeden Stein beim Namen zu kennen, an Orte der Kindheit mit vielen schönen Erinnerungen zurück zu können und nah bei der Familie zu sein. Heimat ist der Ort, für den das Herz schlägt. Janin Achenbach aus Hattingen
„Es ist so wichtig, bei sich selbst zuhause zu sein“
Heimat hängt von vielen äußeren Umständen ab. Ich denke, der Mensch ist, ob er will oder nicht, zunächst einmal an einem Ort geboren und gebunden, ist in ihn hineingewachsen. Dies ist die Heimat, die uns vorgegeben wird durch Menschen, Raum und Sprache. Neues und Fremdes gehört nicht in dieses Heimatgefühl, denn das Fremde stellt uns in Frage, es reißt uns aus der Normalität. Für viele Menschen ist Heimat nicht in Einklang zu bringen mit Fremden, Neuem, sondern nur mit Vertrautem.
Heimat ist aber nicht nur dort, wo man herkommt, sondern auch dort, wohin man sich bewegt – innerlich und äußerlich. Heimat ist Vergangenheit und Zukunft, ist Bewegung und Begegnung mit Neuem und Fremden. Heimat ist für mich etwas, was ich in mir selbst suchen und finden muss. Die äußere Heimat kann ich verlieren, meine innere Heimat dagegen kann ich überall mit hinnehmen. Es ist so wichtig, bei sich selbst zuhause und damit beheimatet zu sein. Ingrid Birnfeld aus Bochum